Aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“: Voltaire – „Eine mustergültige Verfassung und wie sie zustande kam“

in #deutsch6 years ago

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Werte Steemis,
aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“, möchte ich euch heute ein weiteres phantastisches Werk Voltaires vorstellen: „Eine mustergültige Verfassung und wie sie zustande kam“

Kritik:
Voltaire gehört sicher zu den bedeutendsten Philosophen und zählt zu den Aufklärungsvätern. Seine Werke sind in klarster sprachlicher Eleganz formuliert und ein wahres Vergnügen zu lesen.

Voltaire:
Francois Marie Arouet - frz. Schriftsteller und Philosoph 1694; † 1778 – wurde wegen satirischer Schriften verfolgt, festgesetzt und später verbannt. Die Verbannung trieb ihn u. a. von 1750 – 53 in die Hände von König Friedrich II. (Alte Fritz). Volaire vertrat die Vernunftgläubigkeit und eine kirchenfeindliche Toleranz. Seine Schriften trugen u. a. zur frz. Revolution von 1789 bis 1799 bei.


Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.


Aufklärung durch Weltliteratur

Voltaire

Eine mustergültige Verfassung und wie sie zustande kam


Diese politische Mischform in England, dieses Zusammenwirken der Gemeinen, der Lords und des Königs war nicht immer in Geltung; England war lange Zeit versklavt – durch Römer, Sachsen, Dänen, Franzosen. Wilhelm der Eroberer beherrschte es mit eisernem Zepter. Er verfügte über Hab und Gut und über das Leben seiner neuen Untertanen wie ein orientalischer Herrscher. Er verbot bei Todesstrafe jedem Engländer, Feuer und Licht nach acht Uhr abends in seinem Hause zu haben, sei es, daß er so ihren nächtlichen Zusammenkünften vorbeugen wollte, sei es, daß er mit diesem wunderlichen Verbot bloß ausprobieren wollte, wie weit die Macht eines Menschen über andere Menschen reicht. Allerdings haben die Engländer vor und nach Wilhelm dem Eroberer Parlamente gehabt, und sie rühmen sich dessen, als ob diese Körperschaften, die man damals Parlamente hieß und in denen Kirchentyrannen saßen und Plünderer, die man Barone nannte, die Hüter der Freiheit und des Glücks der Allgemeinheit gewesen wären. Die Barbaren, die sich von den Ufern der Ostsee her ins übrige Europa ergossen, brachten den Brauch der »Stände« oder Parlamente mit, aus denen man so viel Wesens macht und die man so wenig kennt. Die Könige waren allerdings keine Despoten; aber gerade deswegen seufzten die Völker in elender Knechtschaft. Die Häuptlinge dieser Wilden, die Frankreich, Italien, Spanien und England verwüstet hatten, wurden Herrscher. Ihre Hauptleute teilten die Ländereien der Besiegten unter sich; daher die Markgrafen, die »Lairds«, die Baronen, diese Untertyrannen, die sich oft mit den unsicher auf ihrem Thron sitzenden Königen um die Beute stritten. Es waren Raubvögel, die einen Adler bekämpften, weil sie den Tauben das Blut aussaugen wollten. Jedes Volk hatte hundert Tyrannen, statt eines guten Herren. Auch Priester mischten sich bald ins Spiel. Zu allen Zeiten war es das Los der Gallier, der Germanen, der englischen Inselbewohner gewesen, von ihren Druiden beherrscht zu werden sowie von ihren Dorfhäuptlingen, einer Art Vorgänger der Barone, nur daß sie weniger tyrannisch waren als diese ihre Nachfolger. Diese Druiden gaben sich als Mittler zwischen der Gottheit und den Menschen aus; sie machten Gesetze, sie bannten, sie verurteilten zum Tode. Die Bischöfe folgten ihnen allmählich nach in ihrer weltlichen Gewalt in dem gotischen und vandalischen Staatswesen. Die Päpste stellten sich an ihre Spitze; mit ihren Breven, Bullen und mit Hilfe ihrer Mönche flößten sie den Königen Schrecken ein, setzten sie ab, ließen sie ermorden und zogen aus Europa soviel Geld an sich als sie konnten.

Der schwachköpfige Inas, einer der Tyrannen der englischen Heptarchie, war der erste, der in einer Pilgerfahrt nach Rom sich dazu hergab, den Peterspfennig (ungefähr einen Taler in unserem Geld) für jedes Haus in seinem Gebiet zu bezahlen. Die ganze Insel folgte bald diesem Beispiel; England wurde allmählich eine Provinz des Papstes; der Heilige Vater schickte von Zeit zu Zeit seine Legaten dahin, um maßlose Steuern zu erheben. Johann ohne Land trat endlich sein Reich in aller Form Seiner Heiligkeit ab, die ihn gebannt hatte; die Barone, die dabei nicht auf ihre Rechnung kamen, verjagten diesen elenden König und ersetzten ihn durch Ludwig VIII., den König von Frankreich, Vater des heiligen Ludwig. Aber bald hatten sie diesen Neuankömmling satt und zwangen ihn, wieder über das Meer zu gehen.

Während die Barone, die Bischöfe und die Päpste dieses England, in dem alle herrschen wollten, zerfleischten, wurde das Volk, dieser zahlreichste, wertvollste, ja tugendhafteste Teil der Menschheit, dem die Rechts- und Wissenschaftsbeflissenen angehören, die Kaufleute, die Handwerker, die Landarbeiter, die den ersten und am meisten verachteten Beruf ausüben, das Volk, sage ich, wurde von jenen angesehen als stehe es auf der untermenschlichen Stufe der Tiere. Keine Rede davon, daß die Gemeinen damals Anteil an der Regierung gehabt hätten; sie waren die »vilains«, ihre Arbeit und ihr Blut gehörte ihren Herren, die sich »Edle« nannten. Die Menschen waren zum größten Teil in Europa damals, was sie jetzt noch an manchen Orten sind: Leibeigene eines Herrn, eine Art Vieh, das man mit dem Boden verkauft und kauft. Es brauchte Jahrhunderte, bis man der Menschheit Gerechtigkeit erwies, bis man fühlte, es sei entsetzlich, wenn die vielen säen und die wenigen ernten. Ist es nicht ein Glück für die Franzosen, daß die Macht dieser kleinen Räuber in Frankreich durch die rechtmäßige Gewalt der Könige gebrochen wurde, wie sie in England gebrochen wurde durch die Gewalt des Königs und des Volkes?

In den Erschütterungen, in welche die Kämpfe der Könige und der Großen die Reiche versetzten, haben sich glücklicherweise die Ketten der Völker mehr oder weniger gelockert. Die Freiheit erstand in England aus dem Zank der Tyrannen. Die Barone zwangen Johann ohne Land und Heinrich III. zur Bewilligung jener berühmten Charta, deren Hauptzweck allerdings war, die Könige in Abhängigkeit von den Lords zu bringen, in der aber auch das übrige Volk etwas bedacht wurde, damit es sich bei Gelegenheit auf die Seite seiner angeblichen Gönner stelle. Diese große Charta, die man als den heiligen Quell der englischen Freiheiten ansieht, zeigt recht, wie wenig man Freiheit kannte. Schon der Titel beweist, daß der König sich von rechts wegen für unbeschränkt hielt und daß sogar die Barone und die Geistlichkeit ihn zu einer Milderung dieses angeblichen Rechts nur zwingen konnten, weil sie stärker waren als er. So beginnt die große Charta: »Wir gewähren aus freiem Willen den Erzbischöfen, Bischöfen, Äbten, Prioren und Baronen unseres Reichs folgende Vorrechte« usw. In den Artikeln dieser Charta steht kein Wort vom Haus der Gemeinen, ein Beweis, daß es noch gar nicht bestand, oder, wenn es bestand, keine Macht hatte. Die freien Menschen in England werden im einzelnen aufgezählt, ein trauriger Beweis dafür, daß es solche gab, die nicht frei waren. Aus dem Artikel XXXII ersieht man, daß die angeblich freien Menschen ihrem Herrn noch Dienstleistungen schuldeten. Eine solche Freiheit hatte noch viel von Sklaverei an sich. Im Artikel XXI befiehlt der König, seine Beamten dürfen künftig freien Menschen ihre Pferde und Karren nur gegen Entgelt nehmen. Diese Regelung erschien dem Volk als echte Freiheit, weil sie es von größerer Tyrannei erlöste. Heinrich VII., ein glücklicher Eroberer und Staatsmann, der so tat, als ob er den Baronen geneigt sei, der sie aber in Wahrheit haßte und fürchtete, ermöglichte ihnen die Veräußerung ihrer Güter. Die Gemeinen, die durch ihre Arbeit sich allmählich Vermögen erwarben, kauften so die Schlösser der erlauchten Pairs, die so toll gewesen waren, sich zugrundezurichten. Nach und nach bekamen so alle Güter andere Herren.

Das Haus der Gemeinen wurde tagtäglich mächtiger. Die Geschlechter der alten Pairs erloschen mit der Zeit. Und da in England im streng rechtlichen Sinn nur die Pairs eigentlich adlig sind, so gäbe es fast keinen Adel mehr in diesem Land, wenn die Könige nicht von Zeit zu Zeit neue Barone ernannt und so die einst von ihnen so sehr gefürchtete Pairskörperschaft erhalten hätten, um mit ihr die allzu gefährlich gewordene Körperschaft der Gemeinen in Schach zu halten. Alle diese neuen Pairs, die die erste Kammer bilden, erhalten vom König ihre Würde, aber sonst nichts, da keiner von ihnen das Gut besitzt, dessen Namen er führt. Einer ist ein Herzog von Dorset und hat keinen Zollbreit Landes in Dorsetshire; ein anderer ist Graf eines Dorfes, der kaum weiß, wo dieses Dorf liegt. Sie haben Macht im Parlament, sonst nirgends.

Hier hört man nichts von hoher, mittlerer und niederer Gerichtsbarkeit, auch nichts vom Recht der Jagd auf dem Grund und Boden eines Bürgers, der nicht die Freiheit hat, auf seinem eigenen Feld einen Schuß abzufeuern. Ein Mensch ist dort nicht darum von der Entrichtung gewisser Steuern befreit, weil er ein Adliger oder ein Priester ist. Alle Steuern werden vom Haus der Gemeinen festgesetzt, das im Rang nur an zweiter, aber seinem Einfluß nach an erster Stelle steht. Die adligen Herren und die Bischöfe können wohl eine Bill der Gemeinen ablehnen, wenn es sich um Erhebung von Geldabgaben handelt, aber sie dürfen nichts daran ändern; sie müssen sie ohne Einschränkung entweder annehmen oder verwerfen. Ist die Bill von den Lords bestätigt und vom König gebilligt, so zahlt jedermann; jeder gibt nicht nach seinem Stand (das wäre widersinnig), sondern nach seinem Einkommen. Es gibt keine willkürliche Taille oder Kopfsteuer, sondern eine reale Steuer auf den Grundbesitz; die Güter wurden alle geschätzt unter dem berühmten König Wilhelm Ill. Die Grundsteuer besteht immer in gleicher Höhe fort, obwohl das Einkommen aus dem Grundbesitz gestiegen ist; so wird niemand gedrückt und niemand klagt; den Bauern drückt nicht der Holzschuh; er ißt Weißbrot, er ist gut gekleidet; er braucht nicht zu fürchten, man erhöhe ihm seine Steuern im nächsten Jahr, wenn er seinen Viehbestand erhöht oder sein Dach mit Ziegeln deckt. Man sieht da viele Bauern, die ungefähr fünf- bis sechshundert Pfund Sterling Einkommen haben und die sich nicht zu gut dünken, weiter den Boden zu bebauen, der sie reich gemacht hat und auf dem sie als freie Männer leben.


ENDE


Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-philosophische-aufsatze-2437/15


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