Ethik, Moral?? Ein Arzt und ein Philosoph in einer e-Mail Korrespondenz!

in #deutsch3 years ago

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Bildquelle: mal wieder meine Leseecke

In meiner Hive Abstinenz, oder besser gesagt - weniger Artikel - ist mir ein schon älterer e-Mail Verkehr in die Hände gefallen, den es auch als kleines Büchlein zu erwerben gibt.

In dieser Korrespondenz diskutieren Karl Hermann Spitzy, Dr. med., Dr. Phil., Universitätsprofessor, Gründer und Leiter der Univ.- Klinik für Chemotherapie in Wien seit 1973. 1974-76 Präsident der Internationalen Gesellschaft für Chemotherapie,

und der mir persönlich bekannte und schätzenswerte Eugen Maria Schulak, Dr. Phil., Studium der Psychologie, Geschichte und Philosophie. 1998 Eröffnung einer philosophischen Praxis in Wien. Seit 1999 Departmentleiter für Philosophie und Weltbild an der Academy of Life.

Beide Herren gehören auch dem „Badener Kreis“ an.

Heute möchte ich lediglich den „sechsten Akt“ vorstellen, der für mich eine außerordentliche Bedeutung hat.

Der Arzt:
Für den gläubigen Christen ist die Gnade Gottes die Offenbarung beziehungsweise das Fleisch gewordene Wort. „Ohne Gnade gibt es keine Freiheit“, wie Augustinus sagt. Worin besteht aber für den Ungläubigen die Freiheit? Ich kann dies nicht beantworten. Vielleicht könntest du als Philosoph zum Thema Freiheit Stellung nehmen.

Anm. Ohne Gnade keine Freiheit

Der Philosoph:
Du triffst dies sehr genau, denn Philosophen zählen gerade heute zu den Ungläubigen. Freilich bedienen auch sie sich dann und wann des Glaubens, aber doch mehr als Stilmittel und Attitüde. Und sollte es bei ihnen tatsächlich zu religiösen Überzeugungen kommen, so sind diese als Beiwerk zu verstehen. Gleichsam als Notfall der Erkenntnis, wenn sonst nichts mehr hilft.

Die Freiheit ist, ob nun für einen Gläubigen oder einen Philosophen, ein schwieriges Thema. Doch für mich steht zumindest eines fest: Die Freiheit ist mir heilig, als Idee wie auch als Lebensform. Was sie jedoch tatsächlich ist, bleibt - mir - rätselhaft. Zu jenen, welche die Freiheit bloß für die „Einsicht in die Notwendigkeit“ halten, wie es Hegel unüberbietbar widerlich formuliert, gehöre ich nicht. Schopenhauer ist, wenn er die Freiheit gleich zur Gänze ad acta legt, bei weitem erträglicher. Er bestreitet sie, lässt aber Fluchtwege offen, die er mit „Kunst“, „Philosophie“, „Religion“ und „Caritas“ benennt.

Anm. Freiheit als Rätsel

Viele Philosophen kommen geradezu ins Schwärmen, wenn es um die Freiheit geht. Da man sie in Ansätzen bereits hinter dem vom Leben geprüften Antlitz der Menschen zu erkennen meint, gelte es nach Meinung dieser Philosophen, sie auch aktiv in Angriff zu nehmen, notfalls sogar mit Hilfe von Revolutionen. Und es ist in der tat festzuhalten: Revolutionen verdanken wir bezüglich Liberalismus und bürgerlicher Freiheiten viel. Beide bilden ja die Grundlage für das moderne Leben, wie wir es kennen. Deshalb sind die Ideen bezüglich der Freiheit für die Entwicklung der zivilisierten Menschheit, für die Entwicklung des politischen Westens unverzichtbar.

Anm. Freiheit als revolutionärer Akt und Grundlage des modernen Lebens

Der Arzt:
Ist es dem Menschen überhaupt möglich, freie Entscheidungen zu treffen? Ich pflege diese Frage für mich mit Hilfe einer Zündholzschachtel zu beantworten. Ich lege die Schachtel vor mich hin. Nun kann ich sie liegen lassen oder nach rechts oder links, nach oben oder unten bewegen. Wenn ich eine dieser Möglichkeiten in die Tat umsetze, so muss es irgendeinen Grund für diese Handlung geben, wie etwa Rechts- oder Linkshändigkeit, aus trotz die Schachtel nicht zu bewegen oder bewusst das Gegenteil von dem tun zu wollen, was sich der Zuseher erwartet etc. Aber was immer ich auch tue: Es hat einen physologischen oder psychologischen Grund. Auch eine ästhetische Überlegung wäre möglich, etwa die Schönheit der Lage dieser Schachtel.

Anm. Keine Entscheidung ohne Grund

Wie auch immer die Situation ausgehen mag: Eine „interesselose“ Entscheidung kann es nicht geben. Die einzige Möglichkeit ist die, einem sich selbst gegebenen Befehl zu folgen. Nun kann man diesem Befehl gehorchen oder auch nicht. So gesehen ist man frei. Doch der ständige Zweifler wird einwerfen, dass wohl auch diese Entscheidung Gründen unterworfen sein wird. Und der Zweifler hat Recht. Wir haben es also schon wieder mit einem Paradoxon zu tun!

Anm. Freiheit als Zirkel und Paradox

Wie kann man diesen Zirkel nun durchbrechen? Dadurch, dass man den Befehl nicht in sich selbst sucht, er muss von außen kommen. Dieses „Außen“ aber ist wieder nur im eigenen Inneren zu finden. Und da sind wir bei der Frage nach dem Gewissen. Ein Gewissen ohne Rückbindung (religio) kann es nicht geben. Der auftretende Zirkel kann nur durch Einführung einer „höheren Gewalt" durchbrochen werden. Ob hier das Göttliche „eingeht“, wie es Buber formuliert, ob eine „Falte des göttlichen Gewands“, wie es in den Zehn geboten des alten Testaments steht, oder die „Wahrheit der Offenbarung“, wie es die Bergpredigt des Neuen Testaments überliefert, ob eines davon eine Rolle spielt ist nicht von Belang. Denn erst die höhere Instanz, die man „freiwillig“ akzeptiert, macht uns frei. Ohne Seele, ohne Gott und ohne Gnade, schreibt Kant, könnte es keine Freiheit geben.

Anm. Keine Freiheit ohne Gott

Freiheit ist für mich schließlich etwas ganz Individuelles, das sich auf ein Gebot bezieht, das man sich selbst gegeben hat. Ob die gefällte Entscheidung dann tatsächlich „interesselos“ ist, bleibt aber eine Sache des Glaubens. Und mein Glaube besteht darin, dass es ohne Rückbindung auf einen Schöpfer, der man Verantwortung schuldet - nicht geht.

Anm. Keine Freiheit ohne Glaube

Der Philosoph:
Lass mich dein Beispiel mit der Zündholzschachtel mit einem Zitat Arthur Schopenhauers noch einmal illustrieren:
„Ich kann zum, was ich will: Ich kann, wenn ich will, alles, was ich habe, den Armen geben und dadurch selbst einer werden - wenn ich will! - Aber ich vermag nicht, es zu wollen: weil die entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich haben, als dass ich es könnte. Hingegen wenn ich einen anderen Charakter hätte, und zwar in dem Maße, dass ich ein Heiliger wäre, dann würde ich es wollen können: dann aber würde ich auch nicht umhinkönnen, es zu wollen, würde es also tun müssen.“

Anm. Kann ich wollen, was ich will???

Der Arzt:
Dein treffendes Schopenhauer-Zitat besagt nun aber auch nicht viel mehr als das Beispiel mit der Zündholzschachtel: Dem freien Wollen muss ein freies Sollen gegenüberstehen.

Der Philosoph:
Das Zitat hat aber einen gänzlich anderen philosophischen Hintergrund. Denn Schopenhauer bestreitet sowohl aus metaphysischen wie auch psychischen Gründen ganz grundsätzlich die Möglichkeit von Freiheit: Freilich kennt auch er Ausnahmesituationen, wie etwa die selbstverleugnende Existenz des Heiligen, die in ihrem unbedingten Sollen deinem freien Wollen schon recht nahe kommt. Doch selbst die Freiheit des Heiligen - bleibt für Schopenhauer letztlich eine Illusion, ein Gaukelspiel der subjektiven Empfindung.

Anm. Freiheit als Chimäre

Passend zu seiner Diagnose gibt Schopenhauer auch bereits einen Hinweis auf den möglichen psychischen Hintergrund dafür. In seiner „Preisschrift über die Freiheit des Willens“ schreibt er:
„Da draußen liegt große Helle und Klarheit. Aber innen ist es finster, wie in einem gut geschwärzten Fernrohr: Kein Satz a priori erhellt die Nacht seines eigenen Innern, sondern diese Leuchttürme strahlen nur nach außen.“
Abgesehen davon bleibt aber die Frage, ob nicht die Idee der Freiheit nur deshalb entwickelt wurde, weil sie für ein zivilisiertes menschliches Zusammenleben notwendig war. Denn niemand hätte jemals jemanden ohne die Idee der Freiheit verurteilen können. Sie ist gleichsam eine Bedingung für die gesellschaftliche Existenz des Menschen.

Anm. Freiheit als Bedingung gesellschaftlicher Existenz

Ich breche diese Diskussion bewusst an dieser Stelle ab und gebe nur noch kurze Anmerkungen zu Aussagen der Diskussionspartner weiter.

Der Arzt:

Anm. Eine Gesellschaft kann gar nicht frei sein

Anm. Die wahre Freiheit ist von allen Interessen unabhängig

Anm. Freiheit versus Liberalität

Anm. Freedom versus liberty

Der Philosoph mit einer Frage:
Worin ist hier aber der Bezug zur Medizin zu sehen?

Der Arzt:

Anm. Ärzte haben ihren Patienten ohne persönliche Interessen zu begegnen

Anm. Die Lebensspanne eines Patienten bewusst zu verkürzen ist Mord

Anm. Jenen, welche den Tod suchen, ist nicht zu glauben

Der Philosoph:

Anm. Der Mensch ist auch Produkt gesellschaftlicher Umstände

Anm. Auch moralisches Scheitern erfordert Zuwendung

Der Arzt:
Dir geht es also um die Verantwortung des Einzelnen. Konfrontierst du im philosophischen Gespräch deine Klienten auch mit Verantwortung und Pflicht, das heißt, präsentierst du ihnen eine Freiheit wovor und wofür?

Der Philosoph:

Anm. In einer zeit fraglos Liberalität ist Ethik ein Modethema geworden

Anm. Die Bandbreite ethischer Lebensformen ist enorm

Der Arzt:

Anm. Die Ethik ist der Metaebene und dem Bereich des Innewerdend zuzuordnen

Anm. Ethik als Verantwortung

Anm. Moral als Gesetz

Anm. Ethisches Handeln ist frei von Interessen

Der Philosoph:

Anm. Wie ist interesseloses Handeln überhaupt möglich?

Anm. Ethik als inflationärer Begriff

Anm. Ethische Fragen treffen uns immer

Anm. Ethik „klingt“ besser als Moral

Anm. Ethik als „Moral für Fortgeschrittene“

Der Arzt:

Anm. Braucht Ethik ein metaphysisches Fundament?

Anm. Ein metaphysisches Fundament ist stets zirkulär und paradox

Anm. Auch einfache ethische Regeln haben allgemeine Anerkennung gefunden

Anm. Ethik und Moral als Kategorien im Rahmen des dialogischen Denkens

Der Philosoph:

Anm. Moral als christliche Überformung antiker Ethik und Philosophie

Anm. Ethik als Selbstbestimmung, Moral als Fremdbestimmung

Anm. Die Vielfalt ethischer Lebenswege entspricht dem dialektischen Grundsatz philosophischen Denkens

Anm. Kann es im Wettstreit ethischer Lebensformen einen Sieger geben?

Anm. Ethisch motivierte Konflikte erfordern den Sprung in die Intimität

Anm. Können ethisch motivierte Konflikte rational gelöst werden?

Anm. Müssen ethisch motivierte Konflikte überhaupt gelöst werden?

Anm. Ethos als das, was uns innerlich bestimmt

Anm. Des Menschen Ethos tritt erst unter extremen Umständen zutage

Anm. Steht ein hohes Ethos über der Moral?

Anm. Im Optimalfall entsteht die Pflicht aus individuellen Überzeugungen

Anm. Ethik als Wagnis

Anm. Ethik als philosophische Basis moralisch-juristischer Konstrukte

Der Arzt:

Anm. Ethik bewirkt eine Haltung die zirkulär auf einer Beziehung beruht und aus einer Begegnung hervorgeht.

Wie würdet Ihr die einzelnen Anmerkungen mit Leben füllen?

Noch einen schönen Sonntag, euer Zeitgedanken

Sort:  

Ein sehr schöner Beitrag interessant dazu.

Bemerkenswert, dass in diesem Dialog die Liebe mit keinem einzigen Wort angesprochen wird. Ich ergänze daher folgendes:

Anm. Ohne Liebe keine Freiheit!

Darauf ein !BEER

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