Persönlichkeitsbildung? Wo? Was ist eine „freie Persönlichkeitsbildung? Fortsetzung!!!

in #deutsch3 years ago

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Im letzten Beitrag habe ich einleitend versucht, über einen Aphorismus die Persönlichkeitsbildung eines Menschen darzustellen und zu Analysieren. Genauer geht es um die „Freiheit im Bildungsprozess“ und zwar ausdrücklich um die Freiheit des dort angesprochenen „Ich“. Es geht also um die Freiheit des Ich in seinem Handeln und Reden.

Freiheit des Ich und Freiheit des Du

Freiheit ist ein wohlklingendes Wort. Es ist in aller Munde. Es gibt Leute, für die ist Freiheit das höchste Gut. Das lassen sie sich einiges kosten. Sie nehmen dafür mancherlei Unannehmlichkeiten in Kauf. Für andere ist sie eine unerfüllte bzw. unerfüllbare Sehnsucht.
Oft wird gegen die Freiheit eingewandt, dass sie nirgendwo greifbar ist. In der Tat ist sie materiell und physisch nicht festzumachen, jedenfalls nicht im Sinne eines empirisch Fassbaren. Freiheit lässt sich nicht anfassen, auch wenn einige Wissenschaftler dies meinen, wenn sie mit hochkomplizierter Gerätschaft nach der Freiheit in unseren Köpfen suchen.

Freiheit ist nur in ihren Auswirkungen zu spüren. Dort ist sie durchaus erlebbar, oft erst während einer leidvollen Behinderung der eigenen Aktivitäten, bei Gefangenschaft und Unterdrückung, bei einer Gängelei und auf dem Folterstuhl. Freiheit ist uns auch direkt zugänglich, wenn auch nicht sinnlich erfahrbar, sondern nur in der Reflexion. In der Reflexion erleben wir uns bewusst als frei agierende Wesen. Anlass dazu ist oft ein Leiden, das durch faktische Unfreiheit bewirkt wird.

Nun ist das „empirische“ (physische) Ich stets der Naturkausalität, also irgendwelchen Notwendigkeiten unterworfen. Dieser Umstand führt in den von Immanuel Kant herausgearbeitete Widerstreit zwischen Freiheit und Notwendigkeit (seine berühmte „Antinomie“).

Dieser Widerstreit kann nur aufgelöst werden, wenn die Bewusstseinsentwicklung an dem Punkt angelangt ist, wo die beiden Ich-Aspekte physisches Ich (Ort der Notwendigkeiten) und nicht-physisches Ich (Ort der Freiheit) unterschieden werden können. Nur dann stehen Freiheit und Notwendigkeit sich nicht entgegen.

Freiheit – wenn es denn überhaupt so etwas wie Freiheit gibt - kann nirgendwo anders beheimatet sein als im nicht-physischen, im „intelligiblen“ Ich.
Das Wort „Freiheit“ wird gewöhnlich nicht so aufgefasst, als sei damit ein unbändiges Draufloslebendürfen gemeint. Vielen bedeutet es allerdings – um nur einen Freiheitsaspekt herauszugreifen: frei sein von unberechtigter Beeinträchtigung der Eigenspontaneität, frei sein

„von eines anderen nötigender Willkür“ (Kant).

In diesem Sinne will wohl jeder als freier Mensch leben können.

Freiheit meint hier zunächst: Nichtbehinderung der Spontaneität und der Aktivitäten des Ich durch Andere. Man nennt sie negativ („negative Freiheit“), weil damit das Nichtvorhandensein, die Abwesenheit von etwas im Blick steht. An solche Freiheit denken wir, wenn wir Rainer Maria Rilkes Gedicht

„Der Panther“

lesen.

Freiheit im Sinne der Nichtbehinderung ist die – von John Locke so bezeichnete –

natürliche Freiheit, Motto: der Eigenspontaneität ihre Bahn!

Diesem Freiheitsbegriff liegt die Beobachtung zugrunde, dass wir Menschen leiden, wenn wir hinsichtlich unserer Spontaneität ungebührlich eingeschränkt sind. Daraus schließen wir, dass es offenbar in uns etwas gibt, was diese Beschränkung nicht erträgt. Wir nennen es „Freiheit“ und sehen in der Freiheit eine Gabe der Natur (Mensch als „freiheitsbegabtes Wesen“) und im Recht auf Freiheit ein Naturrecht.

Bis hierhin hatten wir nur die Freiheit des Ich im Blick. Wie aber steht es mit der Freiheit des Du? - Aufgrund seines prinzipiell begrenzten Erkenntnisvermögens kann das Ich von der Freiheit des Du nichts wissen. Es kann ihr Nichtvorhandensein beim Du auch nicht originär als Leiden erleben. Es bleibt ihm nichts als sie dem Du aufgrund eines feien Geistesaktes zu verleihen. Das Ich muss wollen, dass dem Du Freiheit zukommt.

Bei der Du-Konstitution, auf die ich hier nicht näher eingehen kann (vielleicht schreibe ich hierfür mal einen gesonderten Artikel außerhalb dieser Serie) , erfolgt auch der Übergang der dem Ich eigenen Freiheit hin zum Du. Das Ich transferiert sich als Freiheitsträger in das andere Ich. Das Du gelangt zu seiner Freiheit - zumindest zu seiner Freiheitsbegabung - durch den Transferakt, durch den es erzeugt wird.

Durch diesen Akt wird es neben dem Ich gleichfalls zu einem Ort der Freiheit. Die Freiheit des Ich, die das Ich als Naturgegebenheit bei sich selbst erlebt, z. B. anlässlich des Leidens unter der Unfreiheit, überträgt es im Zuge der Ich-Transferation auf das Du. Damit wird auch dem Du Freiheit zuteil - zumindest als Freiheitsbegabung.

Es erbt gewissermaßen seine Freiheit durch diesen Akt, und zwar unabhängig davon, ob es bereits um diese Freiheit weiß oder nicht.

Die Freiheit des Du ist eine vom Ich „geliehene“ (Kant).

Freiheit und Selbstverantwortung

Freiheit im Sinne des Freiseins von Behinderungen, insbesondere von Behinderungen durch Zwänge, das ist jene Freiheit, für die die Menschen zu Recht auf die Barrikaden gehen. Zu mehr als zur Proklamation der „negativen Freiheit“ (siehe oben) haben sich aber Viele bis heute nicht durchringen können. Freiheit ist von ihnen überhaupt nur als „negative Freiheit“ intellektuell zu erfassen. So konnte und kann es nicht gelingen, Freiheit mit Verantwortung zusammenzubringen. Diese Verbindung zu erkennen ist notwendig, um freie Persönlichkeitsbildung sinnvoll zu gestalten.

Bei der „negativen“ Freiheit wird die Verursachung einer Tat nicht im Ich, sondern immer nur in Anderem, im Nicht-Ich (als dem Auslöser der Behinderung von Freiheit) verortet. Verantwortung hingegen ist eng mit der Verursachung des Tuns eines Ich verknüpft.

Wohl zig Mal am Tag sagen wir „ich, ich, ich“: Ich laufe, ich esse, ich forsche, ich erkenne und vor allem „ich will“. Wir sagen nicht etwa „es läuft mich“, sondern ganz dezidiert „ich laufe“, das heißt: ich bin es, der läuft. Damit drücken wir einen bestimmten Erlebnisgehalt aus: Ich erlebe mich selbst als Spontanzentrum des Laufens. Und darüber hinaus: ich erlebe mich als Verursacher des Laufens. Das sind Beobachtungen, die man bei der Diskussion der anstehenden Fragen, insbesondere der Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, berücksichtigen muss.

Ohne auf weitläufige Untersuchungen zur besonderen Daseinsweise des freiheitsbegabten Ich noch einmal einzugehen, halten wir fest:

wir sind nicht nur Auswuchs („habitus“), sondern auch Quell unserer Spontaneität („persona“).

Sofern sich das Ich – z. B. beim Ich-Sagen - als „reines“ Ich erlebt, weiß es von sich als vom Spontanzentrum seines Lebens, weiß von sich als vom Erzeuger aller seiner Erscheinungen und Aktivitäten. Dabei wird die Spontaneität als inneres Tun erlebt.

Aufgrund der besonderen Beschaffenheit unseres Ich haben wir

„das Vermögen, eine Begebenheit von selbst anzufangen“ (Kant).

Das heißt, wir sind hinsichtlich der Ursächlichkeit unseres Verhaltens autonom. Solche Autonomie im Blick spricht Kant von Freiheit. Autonomie und Freiheit sind für ihn „Wechselbegriffe“:

„Mit der Idee der Freiheit ist… der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden.“

Und sofern das Ich hinsichtlich seiner Eigenspontaneität autonom ist, ist es der Ort der Freiheit. Das Ich ist als Person frei und nicht als Habitus. Als Habitus ist es stets der Naturkausalität unterworfen.

Worauf bezieht sich diese Freiheit im Sinne der Spontanautonomie? Sie bezieht sich auf unseren Willen.

„Der Wille ist eine Art Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen ist, durch den Einfluss fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden“ (Kant).

Nur die Freiheit im Sinne von Willensfreiheit ist es, bei der sinnvoll gefragt werden kann, ob und wie sie

„mit jedes anderen Freiheit… zusammen bestehen kann“ (Kant).

Sie ist die für die Persönlichkeitsbildung relevante Freiheit. Inwiefern?
Die Autonomie des Willens bemächtigt, Eigenspontaneität auch zu hemmen.

Andernfalls folgten wir ungebremst den inneren und äußeren Anreizen, den bedingten und unbedingten Reflexen (Konrad Lorenz und Paul Leyhausen, 1971)

und belästigten damit unsere Mitwelt. Anreize steuerten uns so, wie sie die Tiere steuern. Ausgestattet mit der Freiheit des Willens ist es uns aber möglich, dieser Steuerung zu entkommen und sie selbst zu übernehmen. Das ist die Voraussetzung für normgerechtes Verhalten.

Bei seiner Freiheit ist das Ich bereits als schlicht Dahinlebendes, allerdings noch nicht ganz. Ganz ist es dort erst, wenn es sich als Letztursache für bestimmte Geschehnisse zu begreifen gelernt hat. Über unsere Begabung zur Freiheit würden wir nicht wirklich etwas wissen, wenn wir kein Bewusstsein über unsere Eigenspontaneität gewinnen könnten. Dass wir ein solches Bewusstsein haben können, wenn auch oft undeutlich, zeigt die Tatsache, dass wir stets die Redewendung

„Ich will“

und nicht

„Es will mich“

gebrauchen. „Ich will es“, das bedeutet: Ich habe es selbst in der Hand, dies zu tun, oder auch zu unterlassen. Dass damit keine fremdbewirkte Kausalität in die Welt gelangt, ist nicht allen bewusst. Dieser Umstand ist aber wichtig für das Verhältnis der Freiheit zur Verantwortung. Von Verantwortung hinsichtlich eines Tuns zu sprechen, hat nur Sinn, wenn das Ich dieses Tun frei bestimmen kann.

Das Ich hat keine Macht über sein Schicksal. Aber als freiheitsbegabtes hat es Macht in seiner Rolle als Antwortgeber auf die Fragen, die sein Schicksal ihm stellt. Insofern ist ihm die Ver-Antwortung für diese Antworten zuzuweisen. Verantwortlichkeit für das eigene Tun gründet dort, wo keine Naturursache für dieses Tun aufweisbar ist. Sie ist Ich- oder Selbstverantwortung.

Selbstverantwortung gründet in dem Zusammenspiel von Kausalität und Freiheit. Selbstverantwortung setzt voraus, dass die Kausalkette an einer Stelle unterbrochen ist, nämlich im Ich. Nur so ist denkbar, dass das Ich selbst als Verursacher bestimmter Handlungsvollzüge erscheint. Und nur dann, wenn das Ich Letztursache von Begebenheiten ist, kann es Verantwortungsträger sein.

Von Selbstverantwortung zu sprechen, ist sinnlos, wenn Freiheit nicht auch – neben dem Freisein von den Behinderungen der Eigenspontaneität - als Autonomie dieser Eigenspontaneität, also als Freiheit des Willens gesehen wird. Wer leugnet, dass natürliche Kausalketten auch unterbrochen sein können, dass deshalb unsere Spontaneität Letztursache bestimmter Kausalabläufe sein kann, kann und darf niemanden für sein Tun verantwortlich machen.

Selbstverantwortung bedingt, dass das Ich prinzipiell frei ist von Fremdbestimmung, also die Ursache seines Tuns allein in ihm liegt.

Zusammenfassend lässt sich sagen:

Der „negative“ Freiheitsbegriff

(Der Freiheitsträger x ist frei vom Hindernis y für die Aktion z; kurz: der Eigenspontaneität ihre Bahn!)

ist innerhalb der Grenzen, die man ihm setzen muss, durchaus brauchbar. Indes hat uns Kant gelehrt, dass dieser Freiheitsbegriff nicht ausreicht, um bestimmte Phänomene der Zwischenmenschlichkeit zu erklären, z. B. die Verantwortlichkeit für das eigene Tun.

Der Aspekt der Spontanautonomie muss einbezogen sein, wenn von Freiheit in vollem Sinne die Rede sein soll, im Sinne auch von jener Freiheit, die uns auferlegt, Verantwortung für unser Tun zu übernehmen. Man könnte diesen Freiheitsbegriff in Absetzung zur sog. „negativen Freiheit“ „positive Freiheit“ nennen, wenn damit nicht bestimmte Missverständnisse provoziert würden.

So erscheint Freiheit zum einen als Nichtbehinderung der Eigenspontaneität („negative Freiheit“), zum anderen als Autonomie bezüglich der Eigenspontaneität („positive Freiheit“). Es ist leicht zu sehen, dass die erste ohne die letzte nicht denkbar ist. Denn nur wenn ich hinsichtlich meines Willens frei bin, kann ich eine Freiheitsbehinderung als solche überhaupt erst empfinden.

Ich bin hier noch nicht zum Ende gelangt, aber für Heute ist es genug.
Ich genieße jetzt den Samstag Abend, nach dieser schönen Sonnenphase.

Euch allen einen schönes Wochenende und genießt die Sonne, sofern diese bei euch ebenfalls scheint.

Bis zum nächsten Beitrag,

euer Zeitgedanken.

Sort:  

Toll - ich bin immer wieder tief beeindruckt über das außerordentliche von tiefem Verständnis der Vernunft geprägten Ausführungen eines wahrhaftig großen und tiefen Geistes.

Besonders gut gefallen hat mir die folgende Stelle:

Und nur dann, wenn das Ich Letztursache von Begebenheiten ist, kann es Verantwortungsträger sein.

Vielleicht ist auch dies einer der Gründe warum so viele Menschen dem Alkoholismus verfallen. Im Rauch ist der Betrunkene nicht mehr im Ich verhaftet und kann somit auch kein Verantwortungsträger sein.

Darauf ein !BEER :0)

Danke für die Einblicke in die Dualität der Freiheit, welche auch Assoziationen zur positiven und negativen Religionsfreiheit wieder wachgerufen hat.

Erholsames Wochenende und sonnige Grüße.

Peace & Love

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