Persönlichkeitsbildung? Wo? Wie sieht die Zukunft aus?

in #deutsch3 years ago

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In den ersten Artikeln hatte ich die Schulbildungswirklichkeit beschrieben und analysiert - mit dem Ergebnis: Schulen sind Stätten des „Nünberger-Trichter“-Lernens, des Bildungsdespotismus und der seelischen Verknechtung (zum Nachlesen die entsprechenden Links am Ende dieses Beitrags). Die Schulbildung planiert die Kindheit der Kinder und verunmöglicht in der Folge ein waches und erfülltes Erwachsenenleben.
Die Analyse zeigt: Ein freies, also menschengerechtes Lernen ist an Schulen nicht möglich. Im Schulbildungswesen haben wir es sogar mit einer der massivsten und abscheulichsten Formen der Freiheitsberaubung zu tun, die zudem noch Vielen als gerechtfertigt erscheint.
In den weiteren Artikeln war der Freiheitsbegriff soweit herausgearbeitet worden, dass seine doppelte Bedeutung für das menschliche Aufwachsen sichtbar wird. Auf dieser Basis konnte Weg und Ziel der freien Persönlichkeitsbildung in wünschenswerter Klarheit definiert werden (siehe auch hier die entsprechende Verlinkung). Damit waren die Voraussetzungen für eine Konzeption kind- und jugendgerechter Bildungsstätten geschaffen.

In den Bweiteren Überlegungen hatte ich die emotionale Basis des Bildungsgeschehens thematisiert. Achtung, Liebe und (indirekt!) die Existenzangst geben gemeinsam das Fundament ab für den organisierten Prozess freier Persönlichkeitsbildung - sofern ein solcher über einen äußerlichen Rahmen hinaus überhaupt zu organisieren ist.

Max Stirner war derjenige, der wie kaum ein Anderer die Freiheit in den Mittelpunkt seines pädagogischen Denkens gestellt hat. Im Hinblick auf das Ziel freier Persönlichkeitsbildung schreibt er vor fast 180 Jahren:

„Nicht das Wissen soll angebildet werden, sondern die Person soll zur Entfaltung ihrer selbst kommen; nicht vom Zivilisieren darf die Pädagogik ferner ausgehen, sondern von der Ausbildung freier Personen, souveräner Charaktere; und darum darf der Wille, der bisher so gewalttätig unterdrückte, nicht länger geschwächt werden… Die Selbstoffenbarung der Person (sei) die Aufgabe… Was sie [die Pädagogik, d. V.] zu erstreben hat, ist der persönliche oder freie Mensch. Die Wahrheit besteht in nichts anderem als in dem Offenbaren seiner selbst, und dazu gehört das Auffinden seiner selbst, die Befreiung von allem Fremden, die äußerste Abstraktion oder Entledigung von aller Autorität, die wiedergewonnene Naivität. Solche durchaus wahren Menschen liefert die Schule nicht. Wenn die Menschen dennoch da sind, so sind sie es trotz der Schule“ (1842).

Nur äußerst robusten und resistenten Individuen gelingt es, sich des „Smogs“ zu entledigen, der durch die Schule in ihr Hirn gelangt ist.

Die Schule - so drückt sich ein gestandener Schulpädagoge aus -

„ist ein Übel an sich, das restlos beseitigt werden muss, damit die Jugend, nach endlicher Befreiung von diesem verhängnisvollen Prokrustesbett, sich künftig unverkrüppelt aus jeweiliger freier Selbstbestimmung ihrer eigenen individuellen Natur gemäß entfalten kann… Das ist… nicht… die überspannte Idee eines schulverärgerten Utopisten, sondern die nüchterne Erkenntnis eines schweren Krebsschadens unserer Kultur“ (Walther Borgius, Nachdruck 1981)

Diese Äußerung geschah im Jahre 1930(!), in einer Periode also, in der Schule noch halbwegs funktionierte.

Für die Betroffenen - und in einer entwickelten Gesellschaft sind wegen der intersubjektiven Abhängigkeit der Individuen alle betroffen – stellt sich nun die Frage: Wie soll es weitergehen mit der im Abendland demonstrativ geforderten aber kaum realisierten „Heranbildung freier Persönlichkeiten“? Ist der Gang durch Schulen - gesetzt, sie seien entsprechend reformiert - der geeignete Weg zum Ziel? Zur Klärung dieser Fragen ist zunächst einmal erforderlich, herauszufinden, durch welches Missverständnis die Bildungsstätten in die heutige Lage gekommen sind (im Folgenden: weiter unten).

Im Anschluss an die Erörterungen, die ich am Anfang dieser Serie herausgearbeitet hatte, stellt sich eine weitere Frage: Welche Chance haben jene, die das denaturierte Bildungswesen von heute beseitigen wollen (im Folgenden: Siehe weiter unten). Ob das Unnatürliche am schulischen Lernen nur dumpf empfunden oder voll bewusst ist, es trägt das Potential der Zerstörung der Schule durch sich selbst in sich (im Folgenden: erst im nächsten Beitrag, sonst wird es zu viel). Lassen sich Erscheinungen erkennen, die auf eine Wende im Bildungsdenken hindeuten? (im Folgenden: auch im nächsten Beitrag)
Eine wahrhaft freie Persönlichkeitsbildung steht angesichts der Gegebenheiten in weiter Ferne. Das ist aber kein Grund, pessimistisch zu sein. Der in meinen Anfangsartikeln zitierte Aphorismus könnte ein Leitstern sein auf dem Weg heraus aus der abendländischen Bildungsmisere (im Folgenden: im nächsten Artikel)

Doch nun erst mal zum Widerstreit im heutigen Bildungsverständnis

Die Fürsprecher derzeitiger Schulbildung berufen sich, zumindest anlässlich offizieller Festakte und Sonntagsreden, noch immer auf einen Bildungsbegriff, der seine Wurzeln im Neuhumanismus des beginnenden 19. Jahrhunderts hat. Dieser Bildungsbegriff hat, vom Freiheitsstandpunkt aus, viel für sich. Die neuhumanistische Bildungsidee in ihrer Ausprägung als Schulbildungsideologie ist jedoch mit ihrem Latein am Ende. Das ist bei den Gymnasien ganz wörtlich zu nehmen. Ätzender als der Gymnasiallehrer Alfons Grübener in seinem Buch

„Wege nach Pisa“ (2008)

kann man den Niedergang der angeblich neuhumanistisch inspirierten Schulbildung, auch und gerade an den Gymnasien, kaum beschreiben.
Im Grunde trug die Idee der humanistischen Bildung in Form einer Schulbildung den Keim ihres Niedergangs von Anfang an in sich. Unabhängig davon, ob es in Zukunft die Schule weiter geben wird oder nicht, die in ihr kultivierte Form des Lernens steht in einem eklatanten Widerspruch zu dem aus neuhumanistischer Tradition gewachsenen Anspruch, freie Persönlichkeiten heranziehen zu können. Die Schule wird diesen Anspruch dennoch nicht aufgeben, weil er eine sie legitimierende Alibifunktion hat. Die neuhumanistische Bildungsidee hatte den Keim ihres Niedergangs vor allem auch deshalb schon in sich, weil sie sich nicht immun erwies gegenüber den Usancen der vor ihrem Aufkommen bereits etablierten Schulwelt.

Die Schulwelt bemächtigte sich Anfang des 19. Jahrhunderts der damals für sie neuen Bildungsidee gern und schmückte sich damit. Ihre ersten Wortführer stellten zwar das Individuum und seine freie Entfaltung in den Mittelpunkt ihres Denkens. Ihnen verdanken wir auch, dass der Begriff „Bildung“ ausdrücklich und unwiderruflich mit dem Freiheitsbegriff verknüpft wurde. Vor allem die Schriften Wilhelm von Humboldts atmen den Geist der Freiheit. Aber sie liefern uns kein Bildungsverständnis, in dem Humanität schlüssig artikuliert und operationalisiert erscheint. Den neuhumanistischen Klassikern gelang es nicht, zur bereits bestehenden Schulwelt, die damals schon eine öffentlich organisierte war, kritisch Stellung zu beziehen. Charakteristisch für die „Humanität“ der damaligen Zeit: Wilhelm von Humboldt schmiedete fleißig Schulpläne.

So hat sich entwickelt, was sich entwickeln musste: die heutigen Bildungsanstalten. Diese Anstalten und die nach wie vor ehrenwerte Idee der neuhumanistischen Bildung im Sinne einer wahrhaft freien Lebensentfaltung des Individuums gerieten im Laufe der Jahrzehnte immer mehr in einen eklatanten Widerstreit zueinander. Die auf Polizeigewalt gestützte Zwangsbeschulung in manchen Staaten und das ungute Gefühl, das Viele angesichts dieser Fatalität überkommt, ist nur eine augenfällige Erscheinung dieses Widerstreits.

Der Widerstreit reicht aber viel weiter - bis tief in die Gründe unserer Gesellschaftsstruktur hinab. Das Thema „Freie Bildung und Schule“ mündet in eine Fragestellung, die umfassender ist als die geläufigen Streitfragen nach dem Verhältnis von „Schule und Staat“, „Schule und Kirche“, nach dem Sinn „öffentlicher Schulaufsicht“ usw. Und sie müsste auch entsprechend umfassend behandelt und beantwortet werden. Das kann an dieser Stelle nicht geschehen (hierfür wird es eine gesonderte Serie geben). Hier kann nur gezeigt werden, welche Wirrnis mit dem Widerstreit zwischen dem neuhumanistischen Bildungsideal und der Realität der Bildungsanstalten in die Welt gelangt. „Der Hauptfehler der Schulanbeter“, klagt Murray Rothbard,

„ist die Gleichsetzung von formalem Schulbesuch und Bildung“ (2012).

Der vergebliche Versuch, Schule abzuschaffen

„Das stolze und blinde Vertrauen, das man in die Schule gesetzt hat, gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an“ (Ivan Illich, 2003).

Diese Einsicht hat aber nicht notwendig Auswirkungen auf die Freiheit der Persönlichkeitsbildung. Oben hatte ich angedeutet, dass die Befreiung des Lernens nicht nur eine vollkommene Veränderung des Bildungsdenkens, sondern auch des gesellschaftlichen Denkens überhaupt voraussetzt. Eine Gesellschaft, die wie die unsrige vorwiegend durch obrigkeitliche Direktiven zusammengehalten wird, kann die Schule gar nicht abschaffen. Sie braucht sie als Einübungsstätte für das klaglose Ertragen all jener denaturierten Erscheinungen, die unseren Alltag bestimmen. Insofern passt Schule schon irgendwie zu uns.

Kann man den Verantwortlichen für die Persönlichkeitsbildung, den Schülereltern, Lehrern und Schulpolitikern zutrauen, den „Weg in die Knechtschaft“, den die Schule offensichtlich bahnt, zu versperren? Sie sind doch bereits die durch Schulbildung Verknechteten, die seelisch Verkrüppelten, die charakterlich Verbogenen, die Verunsicherten und Verängstigten. Und genau das offenbaren ihre schwächlichen Argumente und Bedenken, die sie bei der kritischen Erörterung nicht nur von Bildungsfragen, sondern auch von anderen gesellschaftsrelevanten Fragen vorbringen, die den Kern unserer Existenz berühren. Das offenbart auch ihr ständiges Drängen nach zusätzlichen Finanzmitteln, um die Schule für die Zukunft fit zu machen. Dabei ist klar:

„Weitere Investitionen steigern nur das Scheitern der Schule ins Monumentale“ (Ivan Illich, 2003).

Der Ruf nach Veränderung der Persönlichkeitsbildung reißt dennoch nicht ab. Man sieht die Notwendigkeit, aber man möchte die Institution Schule erhalten. Die Eltern von angehenden Schulkindern spüren zwar untergründig das Unstimmige an der Schulwelt und sie erfahren es ja auch über die Medien. Wenn sie ihre Kinder dieser Welt anvertrauen, versüßen sie ihnen den Einstieg mit einer übergroßen Zuckertüte - und trösten sich wohl am meisten selbst damit. Aber Schule abzuschaffen, wagt heute niemand, am wenigsten die Schülereltern: Was wird aus unseren Kindern, wenn wir die Schule nicht mehr haben?

Der Abschaffung der Schulen steht noch ein weiteres Hindernis im Wege: Man hat keine klare Vorstellung von Alternativen. So wird der Schule immer noch eine wichtige Funktion innerhalb der Gesellschaft zuerkannt: als Instruktionsanstalt, als öffentlich anerkannte Gütesiegellieferantin, die berufliche Erfolgschancen eröffnet, aber auch als unabdingbare Kinder-Aufbewahrungsstätte für die zumeist berufstätigen Eltern.

Vor dem Hintergrund solcher Einstellung ist es mit dem bloßen Ruf

„Schafft die Schule ab“ (Everett Reimer, 1972; Lewis Perelman, 1994)

nicht getan.

„Die Entschulung der Gesellschaft“ (Ivan Illich, a. a. O.)

bedeutete nichts Geringeres als einen Kulturwandel, der die heutige Gesellschaft in ihren Grundfesten erschütterte. Ein solcher Wandel ist erst nach einem Totalzusammenbruch des derzeitigen Weltbilds zu erwarten. Bis dahin gilt:

„Jeder von uns ist für seine Entschulung selbst verantwortlich, und nur wir selbst haben die Macht, es zu tun“ (a. a. O.).

Illich ist in diesem Punkt völlig zuzustimmen, vor allem, wenn man bedenkt, dass selbst so prominente Schulkritiker wie Michael Winterhoff, der es als Psychiater eigentlich besser wissen müsste, trotz der von ihm vorgenommenen scharfen Kritik am schulischen Lernen immer noch

„keine grundsätzliche Krise des Bildungssystems“ erkennen (2013; s. auch Olaf Link, 2011).

Dabei käme es in der jetzigen verfahrenen Situation für die Schülereltern und Schullehrer darauf an, auf der richtigen Seite zu stehen. Darf man das erwarten? Nicht einmal für weit weniger folgenreiche gesellschaftliche Veränderungen bringen sie die Energie und den Mut auf. Wie dann für die Abschaffung der Schulen?

Aber es gibt auch Ausnahmen. Man muss es schon heldenhaft nennen, wie einige Eltern ihre Kinder vor dem Zugriff der Schule bewahren. Sie nehmen obrigkeitliche Zwangsakte in Kauf und schrecken selbst vor empfindlichen Strafen nicht zurück. Einige hundert deutsche Familien unterrichten ihre Kinder ausschließlich zu Hause – um den Preis der Illegalität.

„Unsere Kinder leben im Verborgenen“ (Jan Edel, 2007).

Manche Eltern täuschen sogar den Umzug ins Ausland vor.

Sie riskieren Anzeigen, Bußgelder und Haftstrafen (Claudia Becker in DIE WELT vom 30.4. 2015).

Man könnte in ihnen die Helden im Kampf für die Bildungsfreiheit sehen.
Natürlich läuten die Totenglocken der Schule längst. Aber noch ist sie dabei, sich in jeden Winkel der Welt hinein auszubreiten. Wir beobachten die Totalverschulung des Erdballs.

„Ich glaube…, dass sich am Ende des Verschulungszeitalters die Epoche einer Globalschule einleiten könnte, die sich nur dem Namen nach von einem globalen Irrenhaus oder einem globalen Gefängnis unterschiede und in der Erziehung identisch wäre mit Besserungstherapie und Anpassung“ (Ivan Illich, 2003).

Die hier zitierten und eine Fülle weiterer Veröffentlichungen zum Thema vermitteln den Eindruck, dass Schule am Ende sei. Ist aus den Erkenntnissen namhafter Autoren zu schließen, dass es nun vorbei ist mit der Schule? Besteht eine Chance, dass die mit Schule groß Gewordenen für ihre Kinder die Sache gegen die etablierte Schulwelt und für eine neue Form von Persönlichkeitsbildung in die Hand nehmen?

Die Antwort lautet: Nein! Bei denen, die unter dem Zepter der Schulbildungsideologie aufgewachsen sind, ist solches undenkbar. Bildung im wirklich freien Sinne ist in den heutigen Gesellschaften nicht zu etablieren. Denn das aktuell praktizierte Bildungssystem ist in den Köpfen der Menschen fest verankert. Schule ist

„die traditionellste, konservativste, starrste, bürokratischste Institution unserer Zeit“ (Carl Rogers, 1979).

„Zweifelsohne mangelt es nicht an Menschen, die mit aufopferungsvollem Heroismus versuchen, die Schule zu reformieren, sie zu verbessern. Ich halte dies für völlig fehl am Platz! Weshalb? Weil die schulische Institution und der frei sich bildende Mensch aus meiner Sicht schlicht unvereinbar sind…eine Quadratur des Kreises“ (Bertrand Stern, 2006).

Erst eine Gesellschaft, die den Widerspruch innerhalb der Schulwelt, die sich angeblich am neuhumanistischen Bildungsideal ausrichtet, mehrheitlich klar erkennt, bringt sich in die Lage, Bildungsfreiheit zu initiieren und in diesem Zuge die überkommene Schule abzuschaffen. Die neuen Steve-Jobs-Schulen in der Nähe von Rotterdam werden das Problem der freien Persönlichkeitsbildung jedenfalls nicht lösen, ebenso wenig, wie der von Murray Rothbard (2012) in diesem Zusammenhang favorisierte häusliche Unterricht. Es gibt aber Anzeichen, dass sich freie Persönlichkeitsbildung eines Tages durchsetzt, vielleicht auf etwas ungewöhnliche Art und Weise (Dazu mehr im nächsten Artikel)

   ## Die Selbstzerstörung der Schule

„Die Kinder laufen uns aus dem Ruder“, schrieb die Wochenschrift SPIEGEL schon vor Jahren (Nr. 29, 2009; s. auch Nr. 17/2013).

„Es ist eine fast unheimliche Tendenz.“ Vor allem die Kinder weiterführender Schulen seien betroffen, und hier insbesondere die der Gymnasien.
Man muss nicht das Berliner Gymnasium „Nord Neukölln“ inspizieren, an dem die Lehrerin und Autorin Ursula Rogg tätig war, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Ursula Rogg, die Verfasserin des Buches

„Nord Neukölln“ (2008)

weist ausdrücklich darauf hin, dass es überall in Deutschland genauso chaotisch zugeht, wie sie es beschrieben hat,

„an tausend anderen Schulen, die Mühe haben, sich Tag für Tag so zu organisieren, dass sie sich überhaupt noch so nennen können: Schulen.“

„Die Krise der Schule ist offensichtlich und allgegenwärtig. Sie zeigt sich in einer betriebs- und marktwirtschaftlich völlig irrsinnigen Kosten-Nutzen-Relation“ (Johannes Beck, 1994).

Man kann die Diagnose des OECD-Bildungsbeauftragten Andreas Schleicher:

„Das deutsche Schulsystem ist gescheitert“

verallgemeinern, die Schule überhaupt ist gescheitert. Denn in der internationalen Schulwelt sieht es ähnlich aus wie in der deutschen.
Wenden wir unser Augenmerk zunächst denjenigen zu, um deretwillen Schule veranstaltet wird. Welche Situation finden wir vor bei den Lernenden? Darüber liegt eine Reihe von Untersuchungen vor. Sie haben Befunde ans Licht gebracht, von denen wir hier nur die aussagekräftigsten heranziehen wollen.

Verwahrlosung, Vernachlässigung und Gewalt bei den Heranwachsenden sind an der Tagesordnung. Die Schuljugend, vor allem in den Großstätten, befindet sich in einem „fortschreitenden Prozess der Persönlichkeitsauflösung“, ein Prozess, der sich äußert im

„hemmungslosen Konsum von Drogen und Bergen von Süßigkeiten“. Ein großer Teil der Schulkinder klagt über unruhigen Schlaf, über Magen- und Kopfschmerzen. Die Zahl der Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt (SPIEGEL, 20/18).

Schon vor fünf Jahren war zu lesen, dass sich immer mehr Schüler das Leben nehmen.

„Die Schule hat die Aufgabe, fürs Leben zu rüsten, aber so manchen Schüler treibt sie in den Freitod, macht sie zum Trinker, zum Drogensüchtigen, für den ohne ‚Schnellmacher’ oder ‚Stoßdämpfer’ nichts mehr geht“ (SPIEGEL 17/13).

„Auch die Nobelinstitute bleiben von der Zeitkrankheit nicht verschont“,

bemerkt der Hochschulpädagoge Hartmut von Hentig (2003).
Die Heranwachsenden aus Familien in bevorzugten Wohnlagen und mit offenbar besten Bildungsvoraussetzungen sind in ihrem Verhalten

„gravierend auffällig“, beobachtet der Arzt und Psychiater Michael Winterhoff (2009).

Winterhoff diagnostiziert ein internationales Phänomen, das vor allem in sog. „Wohlstandsstaaten“ zu beobachten sei (2013).
Die Befunde sind nicht neu. Schon 1978 diagnostiziert Herrmann Rosemann bei Schulkindern: „Aggressives Verhalten gegenüber Gegenständen und Gereiztheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen sind geradezu die Norm.“ Er verweist auf Untersuchungen, die an Großstadtschulen vorgenommen wurden. Denen zufolge sind nur noch 22% der Schulkinder ganz ohne psychische Störung.

Manche Kinder entwickeln sich

„zu kleinen Monstern und Tyrannen.“ Amokläufer und Selbstmörder seien nur die „Spitze eines Berges, dessen Ausmaß bisher niemand so recht einzuschätzen vermag“ (Winterhoff, 2013).

In den USA gibt es inzwischen mehr Tote durch Schüleramokläufe als bei den Soldaten in den weltweiten Konflikten, in die die Amerikaner verwickelt sind (TV-Sender ZDF vom 20.5.2018).

Heinrich Kupffer (1980) sieht im Schülerselbstmord eine

„Chiffre der Erziehungsverweigerung“.

Je länger sich Heranwachsende dem Schulleben ausgeliefert fühlen, desto heftiger fallen ihre Gegenreaktionen aus.

„Gewaltexplosionen finden wir vor allem an weiterführenden Schulen“,

zitiert der SPIEGEL den Bielefelder Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer (39/ 2009).
Hinter diesem Phänomen stecke ein strukturelles Problem, mutmaßt Heitmeyer, wohl nicht zu Unrecht. Niemand wird über Nacht zum Amokläufer. Es ist das Ende einer langen Kette von unglücklichen Umständen und frustrierenden Erlebnissen.
Der an den Schulen praktizierte Bildungsdespotismus bewirkt nicht nur Angst und Verzweiflung, sondern auch Aggression. Druck erzeugt Gegendruck. Dieser artet zuweilen, wo Vitalität noch nicht restlos erstickt ist, in martialische Gewalt aus. Viele Schüler werden

„unregierbar“. Einzelne Schulen erhalten den Ruf von „Terrorschulen“ (Hartmut von Hentig, 2006).

Die Hilflosigkeit der Polizei, der Schulverwaltungen und Schulleitungen diesem Phänomen gegenüber dokumentiert sich in den angedachten oder bereits ergriffenen Gegenmaßnahmen: Allenthalben bringt man spezielle Warnanlagen an den Schulgebäuden an, organisiert Alarmübungen,

gründet „Expertenkreise“ und setzt sich forschend in schwedische und finnische Klassenzimmer, wo es offenbar etwas weniger chaotisch zugeht (Hartmut von Hentig, 2007; Ursula Rogg, 2009).

Die Zahl der Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten hat sich im Zeitraum von 2008 bis 2018 verdoppelt (Udo Beckmann, im SPIEGEL 20/2018)

Wer angesichts der Gewaltakte an Schulen jene Gewalt, die in Kino- und TV-Filmen öffentlich vorgeführt wird und somit für jedermann zugänglich ist, als Ursache anführt und schnell mit dem Ruf bei der Hand ist:

„Das Fernsehen ist schuld“,

muss erklären, warum diejenigen, die den letzten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche noch voll bewusst miterlebt, also eine bisher nie dagewesene Zusammenballung von Gewalt und Terror am eigenen Leibe erfahren haben, die zudem vielfach mangelhaft beschult aufwuchsen, eine ausgesprochene Aversion gegen Gewalt entwickelten und beim Wiederaufbau des Zerstörten eine Kompetenz und Professionalität erwiesen, die heute ihresgleichen sucht.

Das gewaltsame Aufbegehren der Heranwachsenden gegen die Schulwelt und innerhalb der Schulwelt mag auf Einzelfälle beschränkt sein. Auch die Dropouts, also die an der Schule total Gescheiterten, fallen nicht sonderlich ins Gewicht. Aber niemand wird die Augen davor verschließen können, dass bei den sogenannten „abendländischen Kulturnationen“ seelische Störungen bei jungen Leuten eher die Regel als die Ausnahme sind. Solche Störungen bleiben, zumindest auf den ersten Blick, in vielen Fällen unauffällig. Sie sind auch nicht immer der Schule anzulasten.
Psychische Störungen können über eine lange Zeit hin verborgen bleiben. Ein Seelenleiden bleibt bekanntlich solange unauffällig, bis eine Grenzsituation dem bisher gewohnten Leben eine Zäsur setzt, den Menschen „aus der Bahn“ wirft. Hier kommt dann ein beachtliches Potential seelischer Labilität bei den Beschulten zum Vorschein.

Fast schon typisch für das deutsche höhere Schulwesen: Die erste Bildungsreise der Gymnasialabschlussklassen nach der „Reifeprüfung“ führt nicht mehr an die Denkmäler alter Kulturen oder in Museen, sondern zum Komasuff in die eigens für solche „Bildungsreisen“ aus dem Boden gestampften südländischen Party-Enklaven.

„Die ersten Schritte in die Freiheit enden vor Sangria-Eimern…Sehnsucht nach Exzess“ und nicht nach Kulturgenuss treibt die heranwachsende Elite in die Ferne (SPIEGEL, 17/13).

Aber auch vorher schon, während der Schulzeit, scheint diese Sehnsucht einen erheblichen Grad an Intensität erreicht zu haben. Bereits vor Jahrzehnten ergaben Erhebungen des Soziologen Jasinsky:

„An Hamburger Schulen ist jeder dritte Schüler und jede fünfte Schülerin von der 8. Klasse aufwärts mindestens einmal in zwei Monaten volltrunken. Etwa 3000 Schüler befinden sich allein im Hamburger Gebiet mehr als fünfmal binnen zwei Monaten im Vollrausch“ (zitiert nach dem Buch des Kinder- und Jugendpsychologen Herrmann Rosemann, 1978).

Nicht anders sieht es aus beim Konsum von Drogen im engeren Sinne. Laut einer Studie des deutschen Bundeskriminalamts ist

„die Wahrscheinlichkeit, während einer Schulzeit drogenabhängig zu werden…beinahe größer als es nicht zu werden.“ (Jan Edel, 2007).

Soviel zu den Bedürfnissen (oder Nöten?) der Beschulten. Wie sieht es mit ihrem seelischen Entwicklungsstand aus, der sogenannten „Psychostruktur“? -

„Dyskalkulie, Legasthenie oder ADHS sind die absoluten Chartstürmer in den Hitlisten der Kinderkrankheiten“, schreibt Michael Winterhoff (2009),

„30% der Kinder sind in Behandlung: Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie“ (s. auch der SPIEGEL, 26/2013).

Die Fachleute glauben, dass nur ein Ritalin-Kind in Schulen einigermaßen aufgegleist werden kann. (Die Droge Ritalin wird den Kindern zur Dämpfung der sog. „Hyperaktivität“ verabreicht.)

Aber nicht nur die der Schulwelt anvertrauten Kinder und Jugendlichen „laufen aus dem Ruder“ (s. o.). Auch die Schullehrer tun es. Die Insiderin Ursula Rogg beschreibt in ihrer Schulalltags-Dokumentation die Situation der Schullehrer sehr treffend und verständnisvoll: Viele sind mit der Situation an der Schule vollkommen überfordert.

„Nach zwei Jahren spürte ich gespenstische Anfänge dessen, was viele Kollegen über Jahre zu bandscheibengeplagten Misanthropen, Alkoholikern und Berufsphobikern gemacht hatte, ein physisch und psychisch kaputtes Personal, in das nichts mehr reingeht, aus dem nichts mehr rauskommt.“ Die Lehrer „haben keine Kraft mehr, zu sprechen…Die meisten von ihnen haben Ringe unter den Augen und kämpfen; jeder und jede auf ihre Weise hinter der verschlossenen Tür des Klassenzimmers. Manche werden dabei krank, manche seltsam und manche verzweifeln… Ihre Nichtidentifikation geht bis zum Selbsthass… Bande von Neurotikern, pädagogische Frontarbeiter, alt geworden seid ihr und tagtäglich verliert ihr euer Gesicht, jahrzehntelang.“ Zeitweilig fehlt ein Drittel des Kollegiums krankheitshalber.

An der Lehrerrolle der Schule stimmt offenbar Grundsätzliches nicht. Ursula Rogg:

„Wie sollte ich mir erklären, dass ich nach einem Schulalltag, an dem ich drei oder vier Stunden Unterricht hatte, vollkommen erschossen… nach Hause kam.“

Und sie kommt zu dem Schluss:

„Das System missbraucht uns, indem es sich der Akzeptanz des Scheiterns, das sich hier Tag für Tag abzeichnet, (verschließt).“

Die Schule traumatisiert also Schüler und Lehrer gleichermaßen. Sie scheint zu einer Stätte seelischer Verelendung geworden zu sein.

„Die Entwicklung droht uns um die Ohren zu fliegen“, zitiert der SPIEGEL (14/2009) einen Psychologen.

Wie auch immer, an der Schule leiden mittlerweile alle Beteiligten, Schüler, Lehrer, Eltern und Geldgeber.
Noch scheint das ganze Ausmaß der Zeiterscheinung nur Fachleuten wie Psychologen, Pädagogen und Psychiatern bekannt zu sein. Die Medien halten sich auffallend zurück - als möchten sie die Öffentlichkeit in dem Glauben lassen, dass alles seinen normalen Gang geht an den Schulen. Im Grunde tut man so, als fände man im Großen und Ganzen alles in Ordnung: den Lernzwang, die kaputten Lehrer und Schüler, das Chaos im Unterricht, die ADHS-Tabletten usw. Die vorherrschende Meinung ist:

Es müssen nur ausreichend finanzielle Mittel bereit stehen, dann läuft das schon mit der Schule.

Mit diesem Schlusssatz möchte ich mich auch für heute verabschieden und wünsche noch einen Dienstag Abend

Euer Zeitgedanken