Vergessene Posts - vergessene Gesten

Liebe Hiver,
durch gesellschaftliche Veränderungen und Fortschritte in der Technologie sterben nicht nur viele Berufe (z.B. die Laternenanzünder), sondern auch Sitten, Gewohnheiten, Gesten und damit auch Redewendungen langsam aus oder sind bereits völlig ausgestorben. Dabei merkt man den Verlust oft gar nicht, besonders wenn man mit Jugend gesegnet ist (eine Krankheit, die von alleine heilt - mit zunehmenden Alter).

Der Philosoph und Medientheoretiker Alexander Pschera hat viele dieser teils liebenswerten Versatzstücke des Gestern (und Vorgesterns) zusammengetragen und uns damit vermittelt, was alles verloren gegangen ist und wie ärmer die Welt dadurch geworden ist.

Grund genug, einiges davon hier auch auf der Hive-Blockchain zu verewigen:

Fotos in ein Album einkleben

Wer hat noch Fotoalben bzw. erstellt noch welche nach Urlauben oder sonstwelchen kleineren oder größeren Anlässen? Hier sind natürlich analoge Alben gemeint, die es vereinzelt noch gibt, fallweise mit Spinnenpapier zwischen den Seiten. Sich erstmal die Mühe machen, die Fotos auszuwählen (statt alles auf die Festplatte zu müllen). Dann einzeln einkleben, vielleicht sogar mit bestimmten anderen Erinnerungsgegenständen, Museumstickets, getrocknete Pflanzen, etc. und schliesslich Text hinzufügen - so entstanden einzigartige Kunstwerke, die kommende Generationen überraschen könnten.

Mit einem Stift in der Hand lesen

Wer macht sich noch Notizen in einem Buch oder Markierungen an bestimmten, erinnerungswürdigen Stellen? Ich tue es fallweise noch, aber im Zeitalter der E-Books ist es nur eine Frage der Zeit, bis so etwas unvorstellbar ist. Es macht einen Riesenunterschied, eine Anmerkung in das Buch selbst zu schreiben oder eine digitale Notiz in ein E-Book. Denn letztere gleitet immer an der Oberfläche des sterilen, geruchlosen Textes ab und kann nie in sein "Fleisch" eindringen. Ein Symbol für das Mass an Oberflächlichkeit, mit der man digitale Texte lesen und erarbeiten kann.

Antichambrieren

Zugegeben, mir war dieses Wort auch nicht mehr geläufig. Es bedeutet ungefähr ein oft langes Warten oder auch mehrmaliges Vorsprechen in Vorzimmern höhergestellter Persönlichkeiten oder Behörden, mit dem Beigeschmack, dass man sich dabei durch unterwürfiges Verhalten um eine Gunst ebensolcher Personen bemüht. Heutzutage soll alles sofort passieren, die Menschen sind zunehmend weniger bereit, ihre Zeit mit antichambrieren, generell mit warten zu verbringen.

Einer Dame die Hand küssen

Leider schon so gut wie ausgestorben ausser an bestimmten Orten (wie etwa beim Opernball). Schade, denn mir erscheint diese Geste eine sehr elegante und stilvolle gewesen zu sein und viel besser geeignet, einer Dame Respekt zu erweisen als ein profaner Händedruck. Das Aussterben des Handkusses (hier zu lesen wie man ihn richtig ausführt) ist auch zu einem Gutteil den Frauen selbst zuzuschreiben. Stattdessen haben sich die unseligen Wangenküsschen etabliert. Welch eine Verschlechterung!

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Den Hut lupfen (oder lüpfen)

Tja, da es keine Hüte mehr gibt, kann man diese Geste des Grüssens aber auch des Respekt Erweisens gegenüber Fremden auch nicht mehr ausüben. Schade. Hipster-Hüte zählen nicht, da sie penetrant aufgesetzt bleiben, sogar in geschlossenen Räumen. Apropos Hipster: Hier ist ein sehr witziger Artikel, der erklärt, warum die angeblich non-konformistischen Hipster dann doch irgendwie alle gleich aussehen.

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In Gesellschaft nicht von sich sprechen

Leider leben wir in einer Zeit der permanenten Selbstdarstellung, gipfelnd in der Selfie-Unkultur (auch auf Hive). Wie netter wäre es, wenn es mehr Menschen gäbe, die öfter zuhören und weniger von ihren eigenen Erlebnissen berichten würden.

Sich empfehlen

Eine Floskel nur, längst ausgestorben, aber trotzdem. Wer sich früher mit "Ich empfehle mich!" verabschiedet hat, wollte so beim Gesprächspartner in guter Erinnerung bleiben, mit der stillen Hoffnung, dass er einen guten Eindruck gemacht hatte. Wer sich empfiehlt, der legt Wert darauf, was sein Gegenüber von ihm hält. Wer sich nicht empfiehlt, dem ist es schlicht gleichgültig.

Einen Mittagsschlaf abhalten

Früher war es nichts Ungewöhnliches, zur Mittagszeit zu Hause zu essen, dann einen Mittagsschlaf abzuhalten und dann im Büro weiterzuarbeiten - in w@h-Zeiten ist das jetzt sogar wieder in gewissem Ausmass möglich. Die moderne Leistungsgesellschaft hat uns die Ermöglichung dieses physiologischen Bedürfnises geraubt, obwohl längst das Wissen um die Kraft von power-naps in die Geschäftswelt wiedereingekehrt ist. Bei langweiligen postprandialen meetings tendiere ich auch dazu, wegzudösen, und bin dabei nicht der Einzige. Angeblich empfehlen manche Coaches gestressten Mitarbeitern, ihre power-naps auf der Toilette auszuführen, dem einzigen Rückzugsort im Kapitalismus. Ausprobiert - leider sehr unbequem.

Tagebuch schreiben

Nein, bloggen ist was ganz anderes als Tagebuch schreiben. Ein Tagebuch führt man nur für sich, nicht die anderen. Ein Blogger will ja möglichst viele erreichen, das Tagebuch wird aber so weit es geht versteckt. Und es dient nicht, den Augenblick zu beschreiben, sondern um sich über Dinge klar zu werden, sich selbst besser kennenzulernen oder später den Spuren der eigenen Geschichte zu folgen.

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Seine Uhr aufziehen

Gibt es noch jemanden hier mit einer mechanischen Uhr? Wer seine Uhr regelmässig aufzieht und sie durch Nichtaufziehen stillstehen lassen kann, bewahrt sich eine gewisse Herrschaft über die Zeit, wenn auch nur eine illusorische. Wessen Uhr Tag und Nacht automatisch weitergeht und sich womöglich auch noch automatisch an Zeitzonen oder Sommerzeit anpasst, unterwirft sich quasi willenlos dem Diktat der Maschine und wird so zum perfekten Arbeitssklaven. Ich mag trotzdem meine Solar-Funkuhr von Junghans (nie stellen, nie aufladen, nie Zeitzonen umstellen, einfach praktisch).

Einen seidenen Morgenmantel tragen

Ja, früher hatte man auch zu Hause Stil. Da gehörte natürlich der seidene Morgenmantel zur Grundausstattung, idealerweise mit Einstecktuch. Die heute beliebten Frottee-Bademäntel (die eigentlich aus der finnischen Saunakultur stammen und sich über die Spa-Landschaften der Wellness-Hotels ausgebreitet haben) sind plumpe, unförmige Funktionsutensile - Handtücher mit 2 Ärmeln - kein Vergleich zu einem eleganten seidenen Morgenmantel, in dem man notfalls auch einen überraschenden wichtigen Besuch empfangen kann. Wenn ich so einen hätte, wäre ich glatt versucht, ihn bei einer Videokonferenz auszuprobieren!

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Einen Krawattenknoten binden

Eine Fertigkeit, die, zwar nicht so sehr wie das Anlegen von Manschettenknöpfen, aber doch auf der Roten Liste der gefährdeten Gesten steht. Demnächst auch das Schnüren von Schuhen? Weil die Kleidung immer praktischer wird und Hemden immer seltener getragen, werden wir langfristig auch die Fingerfertigkeit verlernen, derer es bedarf, einen Hemdknopf mit einer Hand durch ein Knopfloch zu befördern.

Pünktlich sein

Früher galt als goldene Regel des gesellschaftlichen Umgangs, Einzelpersonen niemals warten zu lassen, bei Einladungen aber so spät zu erscheinen, wie man es sich und seinem Ruf zutraute. Wer sich rarmachen kann, der wird nachgefragt.
Durch die Vielzahl an modernen Kommunikationskanälen sinkt aber die Wahrscheinlichkeit, pünktlich zu sein, denn man hat ja eine Fülle an Möglichkeiten, seine Verspätung in Echtzeit kundzutun, also wird man nachlässiger, was die Planung des pünktlichen Ankommens betrifft. Ein gutes Beispiel, so Pschera, für die "soziale Deformation durch die Technik".
Paradoxerweise geht aber auch die Möglichkeit verloren, auf reputationsfördernde Weise unpünktlich zu sein, denn als technophiler Großstädter ist man ja jederzeit erreichbar, ansprechbar, verfügbar und sich dann nicht zu entschuldigen, wenn man zu spät kommt, grenzt an Unverschämtheit.

Zum Abschied mit dem Taschentuch winken

Wer kennt nicht Bahnhofsszenen aus meist Schwarzweiss-Filmen mit tränenreichen Abschieden, bei denen Taschentücher benutzt wurden, um die Tränen abzuwischen und gleichzeitig das Winken dem Verabschiedeten noch sichtbar zu machen, wenn der Zug zunehmend gen Horizont verschwindet. Heutzutage geht die Kommunikation ja mit Whats-App gleich weiter. Statt echtem Abschied findet nur mehr ein Wechsel der Kommunikationsebenen statt.

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Sich den Bart streichen

Die meisten Philosophen oder Geistesgrößen hatten beeindruckende Bärte (OK, abgesehen von Wittgenstein). Könnte man sich einen Sokrates ohne Bart vorstellen? Noch gibt es jedenfalls keine Studie über den Zusammenhang zwischen Bart- und Denktiefe. Anzunehmen ist jedenfalls ein Zusammenhang. Die Hand eines Mannes, die durch seinen Bart streicht, ist das Symbol für Nachdenklichkeit (oder Ratlosigkeit). "Er sucht im Heuhaufen des Bartes nach der Nadel der Erkenntnis". Man sieht diese Geste nicht oft, schon gar nicht auf alten Fotos, sie ist aber höchstwahrscheinlich sehr präsent gewesen.
Der moderne barttragende Mann streicht sich dagegen nicht den Bart (genausowenig wie er sich die Haare rauft). Sein Bart ist gleichsam angeklebt, ein bloßes Accessoire, das nicht der Meditation, sondern der Selbstdarstellung dient.

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Peter Sloterdijk, Philosoph und Bartträger

Nicht zum Arzt gehen

Bei manchen Dingen ist es gut, dass sie (nahezu) ausgestorben sind. Aber lustig wäre es schon, mal in einer geselligen Runde von sich zu geben "Ich gehe erst zum Arzt, wenn es wehtut!". Auf die Reaktionen wäre ich gespannt!

Sich auf den Tod vorbereiten

Jeder Augenblick könnte der letzte sein. Nichts hat sich seit Jahrtausenden daran geändert. Doch heute schaut man an dieser ewigen Wahrheit bewusst vorbei. Selbst 85-Jährige oder rüstige, lebensaktive Greise ("Turne bis zur Urne") wundern sich, wenn der Sensenmann anklopft. Spätestens mit 50 (bei Frauen mit 55) sollte man sich den eigenen Grabstein ohne größere innere Erregung vorstellen können.

Übrigens: Was würdest Du Dir wünschen, dass auf Deinem Grabstein geschrieben steht?

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Quelle


Quelle:
Alexander Pschera: Vergessene Gesten: 125 Volten gegen den Zeitgeist, DVB Verlag, 2018

zum Thema passend:
Eine Benimm-Knigge aus den 1970ern, vieles dort ist auch schon "passé"!

Sort:  

Einer Dame die Hand küssen

Mach das mal heutzutage.. wirst mega blöd angeschaut und dann wahrscheinlich direkt eingewiesen (dank Corona) ;)

Ja, das wäre vermutlich sexistisch bis pervers. So schade.

Und gesundheitsschädlich!

Da fällt mir doch eine Eigenschaft ein, die noch immer Gültigkeit hat.
"Sich am Kopf kratzen"

Macht schon ein wenig wehmütig!

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Übrigens: Was würdest Du Dir wünschen, dass auf Deinem Grabstein geschrieben steht?

Und übrigens: Ich war Satoshi


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