Gedenken an de Schtrulle und ein Besuch bei seinem ehemaligen Chef.

in Deutsch D-A-CH2 years ago

Die 4. Episode aus dem Erlebnispark „Jugend w74“

Wir sind so gleich und dann doch so unterschiedlich.

Für all jene, die den Anfang nicht mehr so wirklich abrufen können oder gar übersehen haben:
Episode 1:
Episode 2:
Episode 3:

Mach’s gut – Schtrulle!

An jenem Morgen damals, als ich mir eigentlich fest vornahm, dem vorhersehbaren Verbrechen vor der eigenen Haustür auf die Schliche zu kommen, machte ich mich dann letztlich doch wieder auf den Weg in die Schule. Rückblickend, da ich Nebensächlichkeiten jenes Morgens nicht mehr abrufen kann, gehe ich davon aus, dass es mir zu kalt war, den Vormittag hinter einer Hecke, Mülltonne oder einem geparkten Lastkraftwagen zu verbringen, bloß um die Gewissheit zu erhalten, dass de Schtrulle in der Nacht äußerst knapp seinem eigentlich fast sicheren Tod, von der Schippe gesprungen war? Der Nachmittag brachte jedoch endgültig Gewissheit. Einer von Erwin Müllers stinkenden Knochentransporter bog bei uns um die Ecke. Zweifelsfrei konnte ich auf dem Beifahrersitz einen Mann erkennen, den alle in meiner Stadt ausnahmslos de Schtrulle nennen. Diese Nacht hatte der Mensch mit dem Dauerdurst und einer bemerkenswerten Verdauung also zum Glück überlebt.
Eine nicht mehr zu verhindernde Kollision mitten in der Nacht mit einem Pkw auf der Bundesstraße, just zwei Monate später, leider nicht. Kein Mensch konnte sich damals einen Reim darauf machen, was de Schtrulle um diese Uhrzeit schlechterdings auf der viel befahrenen Bundesstraße zu suchen hatte. Niemand wird es je erfahren. Einen Abschiedsbrief hatte er, soweit ich meinen Fuß in die Küche mit den damals brodelnden Gerüchten stellen durfte, nicht hinterlassen. Vielleicht trägt die Hauptschuld an seinem Tod eine simple Fehleinschätzung? Die Annahme, dass nach Mitternacht ihm ein Begleiter zur Seite gestellt wird, der ihm weiträumig den Asphalt auf der Bundesstraße ausleuchtet, konnte sich ausschließlich nachteilig auf seine Gesundheit auswirken. Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass er dabei nicht in Erwägung gezogen hatte, es könnte ebenso ein Auto sein, das ihm da gerade mit etwas Vergleichbarem wie einer Taschenlampe zu Hilfe kommt. Und was den eventuell aufklärenden Abschiedsbrief betrifft, möchte ich nicht vollkommen ausschließen, dass de Schtrulle und das Schreiben nicht füreinander gemacht waren. Da machten auch Abschiedsbriefe keine Ausnahme.

Und wie reagierte sein Chef, der Backfisch?

Erwin, der Backfisch, Müller

Der letztlich eher unerwartete Abgang im Personalbestand brachte das Unternehmen des Erwin, der Backfisch, Müller zu keiner Zeit in Schieflage, da mit dem Einstieg des schrägen Otto der Verlust vom Schtrulle eins zu eins wettgemacht werden konnte. Was den unstillbaren Durst betrifft, stand der schräge Otto dem Schtrulle in nichts nach. Ebenso wie sein Vorgänger meidet Otto jeglichen Kontakt zu Papier und Bleistift. Das einzige Papier, was der Fachkraft für das Verzurren von Planen über stinkenden Kadavern, in die Hände kommt, dies hoffe ich zumindest, ist das noch unbefleckte Toilettenpapier. Selbst von Papiergeld hält er wenig. Hat er dann trotzdem mal einen Schein in der Hand, übergibt er ihn lieber umgehend der Kassiererin im Getränkemarkt. Ob Otto grundsätzlich in der Lage ist, Buchstaben auf einem Stück Papier zu hinterlassen, halte ich für unwahrscheinlich, da der alles überragende Schöpfer des Universums diesem Menschen bereits im Mutterleib übel mitgespielt hat. Denn beim letzten TÜV vor der Geburt vergaß der große Meister Ottos Augäpfel vorschriftsmäßig zu justieren. Mein Vater behauptet stur und steif, Otto besäße die Fähigkeit, mit dem linken Auge in seine rechte Hosentasche zu schielen, während sein linkes Sehorgan den Himmel nach heimatlosen Schwalben absucht. Normalerweise gebe ich ja nicht viel auf die Einschätzungen meines Erzeugers, da er das Weltgeschehen ununterbrochen durch die Besserwisser-Brille betrachtet, die auffallend vielen Pädagogen mit ihrem Uni-Abschluss offenbar auf die Nase getackert wird. In diesem Fall könnte er allerdings den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Mich jedenfalls ziehen solche Menschen wie der schräge Otto magisch an. Deshalb gibt es von mir niemals ein Nein, wenn meine Mutter mich bittet, schnell ins EDEKA zu sprinten, um irgendwelchen Blödsinn wie Hefe oder Muskat zu kaufen, da mein Weg stets an dem dubiosen und übel riechenden Kleinunternehmen von Erwin, dem Backfisch, Müller vorbeiführt. Einer von Herrn Müllers hoch qualifizierten Fachkräften ist stets zugegen und jederzeit zu einem kurzen verbalen Austausch bereit. Manchmal nicht sofort, aber wenn das Pinkeln an den fast profillosen Vorderreifen einer der Lkws erledigt und das eigene Fortpflanzungsgeschirr wieder verpackt ist, zeigt man sich interessiert an einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis.
»Und Wolfram, wieder eine Kleinigkeit vergessen?« Ich bejahe diese Frage freundlich und gebe sogleich ungefragt Auskunft darüber, was auf meiner Einkaufsliste steht. Einzig mit dieser Vorgehensweise kann ich meine Verweildauer möglichst in die Länge ziehen. Und bei Otto verweile ich besonders gerne. Während er mir erzählt, wie er vor ewigen Zeiten die gleiche Schule wie mein Vater besuchte (was natürlich nicht außergewöhnlich ist, wenn man hier in der Stadt geboren wurde), starre ich voller Faszination in diese Augen. Dabei kommt es nicht selten vor, obwohl ich mich auf das konzentriere, was im Supermarkt zu besorgen ist, muss ich immerzu an die Schwalben und die linke Hosentasche denken. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, ob er das Kunststück wahrhaftig live und in Farbe beherrscht. Aber ich traue mich nicht. Man spricht Menschen allgemein eher ungern auf ihre körperlichen Gebrechen an. Dass seine Augäpfel nicht der aktuellen DIN-Norm entsprechen, müsste er mittlerweile selbst erkannt haben? Oder hat dieser Mann sich noch niemals gefragt, warum ihn jeder in dieser Stadt den schräge Otto nennt? Ich würde zu gerne wissen, wie Otto sich vor den Spiegel stellen muss, damit er ohne technische Hilfsmittel erkennen kann, wer ihm da gegenübersteht? Meine ganze Hoffnung beruht auf der noch vor mir liegenden Lebenserwartung und vielen Einkäufen bei EDEKA.

Das mit der gemeinsamen Zeit in der Grundschule ist übrigens keine Erfindung vom schrägen Otto. Das hat eine Nachfrage bei meinem Vater eindeutig ergeben. Schwelgend in der Erinnerung an seine Jugend, musste der professionelle Besserwisser erkennen, dass er erstaunlicherweise mit einer nicht unbeträchtlichen Anzahl an Mitschülern über den Schulhof fegte, die alle heute ein, ich sage mal, gesondertes Ansehen in meiner Stadt genießen. Mit Erwin, dem Backfisch, Müller drückte Frank Baum sogar dieselbe Schulbank. Dies bedeutete längst nicht das Ende der Fahnenstange, denn ebenso in der Freizeit war man, glaubt man dem Zeitzeugen aus meiner Familie, wie Kopf und Arsch. Schöpfend aus dieser Quelle, habe schon damals Erwin sein Gespür für den lukrativen Handel mehr als einmal unter Beweis gestellt. Schätzungsweise war nicht alles komplett legal, was da an Ware ausgetauscht wurde. Zu wirklichen Problemen, laut meinem Informanten, kam es demnach höchst selten, da sein Freund Erwin wie selbstverständlich auf seine älteren Brüder zählen konnte, von denen reichlich Gewehr bei Fuß standen. Heute ist der Macher, als welcher sich der Backfisch gerne selbst bezeichnet, Besitzer einer zwielichtigen Bar außerhalb der Stadt, in der diverse Damen nicht ausschließlich ihre körperlichen Reize, sondern dem zahlenden Publikum und dem Chef selbst die unterschiedlichsten Dienstleistungen und Güter anbieten. Außerdem verfügt er mit der Kadaverentsorgung über eine besondere Form von Gelddruckmaschine. Müßig in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass Geld und Erwin offensichtlich vorzüglich zusammenpassen. Erwin, der Backfisch, Müller gehört wahrlich nicht zu den Menschen, die ihr Geld irgendwo horten, verstecken oder gar leugnen. Im Gegenteil. Der Mann zeigt unentwegt, wo immer sich die Gelegenheit bietet und voller Stolz, was er da an Schotter angehäuft hat.

Als anschauliches Beispiel könnte ein eigentlich eher beiläufiges Aufeinandertreffen dienen, als ich meinem Vater bei der Gartenarbeit behilflich sein „durfte“. Es rollte, nahezu im Schritttempo, eine dunkelgrüne Jaguar-Limousine unsere Straße herunter und kam neben unserem Haus auf dem Bürgersteig zu stehen. Mit einem nahezu geräuschlosen Summen glitt die getönte Seitenscheibe nach unten und ließ einen neugierigen Blick ins Wageninnere zu. Raumfüllend bestimmte das grinsende Gesicht von Erwin, dem Backfisch, Müller das Szenario. Während ich meinen Spaten sofort in den Boden rammte, um der Limousine aus nächster Nähe meine Aufwartung zu machen und Herrn Müller zu dem geilen Gefährt zu beglückwünschen, blieb mein alter Herr äußerst gelassen, nutzte seinen Spaten als Armstütze und sagte süffisant lächelnd zu seinem ehemaligen Jugendfreund: „Du elender Angeber.“

Ehrlich gesagt, mir wäre es vollkommen egal, ob mich jemand als Angeber bezeichnen würde, wenn ich mir einen solchen Schlitten leisten könnte. Besser ein Angeber mit Jaguar, als ein Langweiler mit Spaten als Stehhilfe. Der Backfisch steckte den Kommentar meines Vaters lachend weg, stemmte seine mehr als hundert Kilo Lebendgewicht aus dem edlen Ledersitz und erlaubte tatsächlich, es mir in dem aufgewärmten Sitz gemütlich zu machen. Augenblicklich versank ich im Leder. Mit beiden Händen am Lenkrad begann meine Rundumschau auf das Interieur des Wagens. Dass währenddessen da noch eine andere Person auf dem Beifahrersitz saß und mich bei meiner Rundreise im Raumschiff der Superlative beobachtete, störte mich nicht die Bohne. Im Gegenteil, denn neben mir saß kein Geringerer als de Kiez, einer der älteren Brüder von Erwin Müller. De Kiez, dessen Mutter sich sicherlich das eine oder andere Mal gefragt haben dürfte, warum sie sich derart viel Mühe bei der Vergabe der Vornamen ihrer Söhne gegeben hat, wenn diese nachher auf Schwachsinn wie de Kiez, der Backfisch oder der Knauper reagieren, ist von seinem Erscheinungsbild eigentlich nicht ohne Weiteres dem Backfisch familiär zuzuordnen. Mindestens einen Kopf größer als der Bruder, Hände wie ein Schaufelbagger – andererseits leider nicht in der Lage sich selbstständig die Schuhe zu binden. Dieses Defizit in der Bewältigung täglich am Horizont auftauchenden Hindernisse ist nicht auf seine Unbeweglichkeit zurückzuführen. Nein, de Kiez bekommt die Schlaufenbildung einfach nicht gerafft. Aber überhaupt kein Grund, mit dem Schicksal zu hadern. Ein solches Handicap soll ja in den besten Familien vorkommen. Unter anderem ebenfalls in Familien, die nicht im Knochengeschäft erfolgreich sind. Kein Grund sich Sorgen machen zu müssen, schließlich wurden die Klettverschlüsse nicht umsonst erfunden. Außerdem ist da ja noch ein Bruder, den minimale Schwächen bei seinen Angestellten ausnahmslos peripher interessieren. Grundvoraussetzung, um im Team Backfisch eine feste Größe zu werden, sind eine eklatante Rechenschwäche, viel Durst, Anweisungen des Chefs unter allen Umständen, ohne sich eigene Gedanken zu machen, umzusetzen und vorher auf gar keinen Fall einer geregelten Arbeit nachgegangen zu sein. Beim Backfisch benötigt niemand nichts – aber auch rein gar nichts zu unterschreiben. Gehaltsabrechnungen ohnehin nicht. Böse Zungen behaupten, einzig aus dem Grund, da keiner aus der kompletten Truppe je im Leben solch einen Wisch zu Gesicht bekommen hat.

Obwohl mein Vater oft Andeutungen in die Richtung gemacht hat, Erwin Müllers zweifelhaftes Vermögen wäre samt und sonders haarscharf am Finanzamt vorbei erwirtschaftet worden, können diese böswilligen Unterstellungen meine Anerkennung für den Jaguar-Besitzer und seine Mitarbeiter kaum schmälern. Es wäre wahrhaftig an der Zeit, für den selbst ernannte Oberfinanzaufseher, solche Angelegenheiten mit anderen Augen zu betrachten. Da sitzt einer, der sich nicht die Schuhe binden kann und lässt sich in einer tollen Limousine durch die Stadt kutschieren, während der staatlich subventionierte Besserwisser mit den Gummistiefeln im Garten steht und sich krampfhaft an einem Spaten festhält.

Ich bin selbst gespannt, welche Episode es am kommenden Donnerstag in den Erlebnispark “Jugend w74” schafft. Aber möglicherweise kreuzen sich unsere Wege bereits zuvor? Bis dann …

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Eines der schönsten Autos aller Zeiten. Ein Kumpel meines Vaters hatte das Teil mit dem 12-Zylinder-Motor. Als kleiner Junge war es ein Riesenhighlight, wenn ich hinten drinsitzen durfte.

Das kannst du, verflucht nochmal, weit in die Welt rausschreien. Egal, was man über die Engländer auch mit Berechtigung lästern darf - aber die Jaguar-Limousine ist die Erfüllung des Traums schlechthin.
Lassen wir den mal ganz außer Betracht:

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