„Sekundenschaf“ – Warum wir manchmal doof sind

in #deutsch7 years ago (edited)

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Vor einigen Jahren büßte ich für einen Monat den Führerschein ein. „Auf das Auto kann ich wohl verzichten“, dachte ich, „das Motorrad ist ja auch noch da.“ Bis zum Schlag vor die Stirn dauerte es nicht lange.

Eine Freundin vergaß ihr Mobiltelefon bei mir. „Da schicke ich ihr gleich eine SMS, damit sie sich keine Sorgen macht.“ Patsch!

In der Apotheke. „Gute Besserung!“ „Danke, Ihnen auch!“ Patsch, patsch!

Wer kennt sie nicht, diese Aussetzer im Denken? Malte Welding hat dafür den Ausdruck „Sekundenschaf“ geprägt. [1] Aber sind es wirklich Aussetzer? Sind es flache Stellen im ansonsten tief und klar dahinströmenden Fluss vernünftiger Gedanken? Die folgende Situation hat vielleicht der ein- oder andere schon erlebt: Man erreicht nach einer halben Stunde Fahrt den Arbeitsplatz und versucht, sich an diese halbe Stunde zu erinnern, an Eindrücke, an eigene Gedanken. Na, kommt da viel?

Die meiste Zeit unseres Lebens ist unser „Autopilot“ in Betrieb. Zwar können wir nicht nicht denken (es sei denn, wir sind sehr geübt in Meditation), aber das heißt noch lange nicht, dass die Gedanken, die wie Wolken in uns herumschweben, kohärent sind, also sinnvoll zusammenhängen. Halbwegs der Fall ist das nur, wenn wir auf eine Aufgabe fokussiert sind, die uns neu ist, also noch nicht in den Bereich der Routine abgesunken.

Routineverrichtungen hingegen erledigt der Autopilot, schön zu erleben im... genau, im Auto. Der Fahrer denkt nicht „Blinken, Kupplung, erster Gang, Gas, kommen lassen, Gas weg, Kupplung, zweiter...“. Alles, was er tut, kommt aus dem motorischen Gedächtnis, es dringt nicht in die Verstandesebene; der Kopf ist frei und manchmal geradezu leer.

Nun unterliegen wir gern der Illusion, unser Denken sei stets fokussiert, denn sobald wir versuchen, es zu beobachten, haben wir ja genau diesen Fokus, auf das Denken selbst nämlich. Wenn wir es jedoch, wie die meiste Zeit, nicht beobachten, dann können wir auch nicht sagen, wie es sich abspielt.

Da wir schon bei Illusionen sind, eine weitere: „Wir denken in unserer Muttersprache.“ Ja, ist das so? Erinnern wir uns an unsere letzte Reise; was kommt uns zuerst in den Sinn? Ein Satz oder ein Bild?

Steven Pinker nennt unsere innere, aus Bildern und abstrakten Konzepten („rund“, „Obst“, „oben“, „Vater von“) bestehende Sprache „mentalesisch“. Wer’s nicht glaubt, möge sich an das letzte Mal erinnern, als er dings hatte... verdammt, wie heißt es... Augenblick... Wortfindungsstörungen! Als ihm „ein Wort auf der Zunge lag“; in diesem Moment hat man den Begriff klar vor dem inneren Auge, aber die Übersetzung von Mentalesisch nach Deutsch versagt.

Zurück zum Autopiloten. Warum sind wir nicht die ganze Zeit mit klarem Verstand bei der Sache?

Nun, der Autopilot ist schnell und „billig“, er strengt uns nicht an. Daniel Kahneman nennt ihn „System 1“ [3], ich nenne ihn „Reflexsystem“. Das Reflexsystem arbeitet mit vorgefertigten Lösungen, die oftmals passen. Ihm gegenüber steht das „Reflexionssystem“, das Lösungen erarbeitet. Es ist eher durch Logik geprägt als durch Heuristiken, aber es ist langsam und ermüdet uns bald.

Wollen wir mal beiden bei der Arbeit zusehen? Dafür geeignet ist der „Cognitive Reflection Test“. [4] Er besteht aus drei Aufgaben:

  1. Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Dollar. Der Schläger kostet 1 Dollar mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?

  2. Wenn fünf Maschinen fünf Minuten für fünf Produkte brauchen, wie lange benötigen dann 100 Maschinen, um 100 Produkte zu erstellen?

  3. In einem See wachsen Seerosen. Jeden Tag verdoppelt sich die Menge der Seerosen. Die Seerosen brauchen 48 Tage, um den gesamten See zu bedecken. Wie lange würde es dauern, bis die Seerosen die Hälfte des Sees bedeckt haben?

Das Reflexsystem liefert schnell naheliegende Antworten: „10 Cent, 100 Minuten und 24 Tage“. Leider alle falsch.

Die richtigen lauten: „5 Cent, 5 Minuten und 47 Tage“. Auf sie zu kommen, kostet uns Mühe... naja, die einen mehr, die anderen weniger. Vor allem aber kostet es Zeit, und hier liegt der Schlüssel.

Unsere Gehirne sind nicht als Erkenntnisinstrument evolviert, sondern um uns erstens überleben und zweitens Kinder in die Welt setzen zu lassen. Die Art „Homo sapiens“ ist mindestens 300000 Jahre alt. In 99 Prozent dieser Zeit, nach entwicklungsgeschichtlichen Maßstäben bis neulich, lebten unsere Vorfahren in einer gefährlichen Welt; Hunger, Angst und Bedrohungen waren allgegenwärtig. Das hat Spuren in uns hinterlassen. Ihretwegen haben wir Lust auf mehr Fettiges und Süßes, als uns gut tut. Ihretwegen haben wir heute noch Angst vor Spinnen, vor Schlangen und vor jedem Knackgeräusch im nächtlichen Wald, anstatt vor dem eingesteckten Fön auf der Ablage über der Badewanne und dem Straßenverkehr.

In einer Umwelt, in der einem jederzeit irgendwer oder irgendwas ans Leder gehen kann, ist allzu langes Nachdenken eventuell tödlich. In dieser Umwelt und für sie ist das Reflexsystem entstanden; es ist eine Toolbox, voll mit schnell einsetzbaren Denk- und Handlungsmustern, die fast immer funktionierten, denn es gab weder den obigen Cognitive Reflection Test noch die Tisch-Illusion:

In den letzten an einer Hand abzählbaren Jahrhunderten ist unsere Welt um Größenordnungen komplexer geworden, und diese Entwicklung wird bis auf weiteres nicht etwa aufhören, sondern sich beschleunigen. In Alltags-Situationen funktioniert unser Reflexsystem noch passabel (außer in der Apotheke). Aber schon bei Entscheidungen in der Wahlkabine sind wir mit ihm das Sekundenschaf, das Minutenschaf... das Dauer-Schaf.

Ein paar Schlaglichter als Anreize für das Reflexionssystem:

  • Viele Berufe, in denen man überwiegend mit gelernten Handlungsmustern auskommt, werden sehr bald verschwinden.

  • In Berlin hat sich die Anzahl der Einser-Abiture binnen zehn Jahren vervierzehnfacht. Und das nicht, weil wir plötzlich vierzehn Mal so viele schlaue Schüler hätten. [5]

  • Was meinen wir eigentlich, wenn wir von „Bewusstsein“ reden? Gehört der „Autopilot“ dazu?

  • Alles obige ist stark vereinfacht. Wer mehr wissen will, findet die verdaulichste Einstiegslektüre bei Steven Pinker.

[1] http://www.sekundenschaf.de
[2] Steven Pinker, „How the Mind Works“
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Schnelles_Denken,_langsames_Denken
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Cognitive_reflection_test
[5] http://www.zeit.de/studium/2016-12/notenvergabe-abitur-josef-kraus-lehrerverband

Sort:  

Ich bin beeindruckt...danke...freue mich auf mehr und folge Deinem Kanal.

Herzlichen Dank!

Ja, dass menschliche Gehirn ist eine Sache für sich :)

Eigentlich ist es eine Sache für die Gene, die es hervorgebracht haben. ;-)

Der Eiweise...? :)

Haha! Meinetwegen können wir von der Proteinbasis irgendwann runter; ich hätte nichts gegen ein paar Transistoren im Oberstübchen.

:) na dann willkommen bei der mikroelektronischen Revolution & einen schönen Abend noch.

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Sehr, sehr geil....ich freue mich auf mehr!!!