Persönlichkeitsbildung? Wo?

in #deutsch4 years ago

Max_Stirner-k.jpg

Wenn man heute nach Persönlichkeitsbildung Ausschau hält, zeigt sich ein ernüchterndes Bild. Man sollte nicht glauben, dass man in einer angeblich hoch gebildeten Gesellschaft so etwas wie Persönlichkeitsbildung tatsächlich suchen muss. Stimmt da etwas mit unserer Bildung nicht?

Nachdem die romantische Vorstellung vom „idealen Menschen“ als Entwicklungsziel für Heranwachsende abgewirtschaftet hatte, sollte man sich auf Bescheideneres besonnen haben. Es gibt wohl - nüchtern betrachtet - kein höheres Ziel für die Persönlichkeitsbildung als den Aufbau eines möglichst großen Geistes- und Handlungspotentials. Der sollte in den Grenzen erfolgen, die Jedem von seinem Schicksal her vorgegeben sind. Trotz dieser Grenzen kann sich menschliches Leben voll entfalten und vielleicht sogar schöne Blüten hervorbringen.

Weitsichtige Denker des 19. Jahrhunderts haben den engen Zusammenhang gesehen zwischen Persönlichkeitsbildung und Gesellschaft. Ist die Persönlichkeitsbildung frei, dann kann davon ausgegangen werden, dass es die Gesellschaft selbst auch ist. Ist die Persönlichkeitsbildung knechtisch, kann davon ausgegangen werden, dass es Gesellschaft selbst auch ist.

„Bildet man unsere Anlage, Schöpfer zu werden, gewissenhaft aus oder behandelt man uns nur als Geschöpfe, deren Natur bloß eine Dressur zulässt? Die Frage ist so wichtig als eine unserer sozialen nur sein kann, ja sie ist die wichtigste, weil jene auf dieser letzten Basis ruhen“ (Max Stirner, 1842).

Zu Lebzeiten Stirners, des vehementen Kritikers nicht nur der Form der abendländischen Bildung, sondern auch der sie tragenden Gesellschaftlichkeit, gelangte zum ersten Mal die sogenannte „soziale Frage“ in das Blickfeld der Intellektuellen. Stirner war es, der herausfand, dass mit der Bildung der Heranwachsenden der bei weitem wichtigste Aspekt der „sozialen Frage“ berührt ist. Damit befand er sich im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen und Freunden, die „die soziale Frage“ auf das materielle Wohlergehen aller gesellschaftlichen Klassen reduzierten. Stirner misst der freien Persönlichkeitsbildung eine weit größere Bedeutung für die Lösung der „sozialen Frage“ bei als dem klassenkämpferischen Faustgebrauch.

Man beachte: Kaum war die „soziale Frage“ ausdrücklich und öffentlich gestellt, wurde die Persönlichkeitsbildung als das wichtigste Ingredienz dieser Frage erkannt. Das bedeutet: Freie Persönlichkeitsbildung ist nicht nur ein Thema, das Kindheit und Jugend betrifft, sondern die Gesellschaft überhaupt. Sofern Persönlichkeitsbildung in einer Gesellschaft in der Kritik steht, steht zugleich die Gesellschaft als solche mit in der Kritik.

Mit der Persönlichkeitsbildung steht es derzeit nicht zum Besten. Das hat man aber in und von früheren Zeiten auch schon gesagt. Erinnert sei an Philipp Melanchthons Suada in seinem Schriftchen De miseriis paedagogorum. Aber anders als früher, als man stets schnelle, wenn auch nicht immer intelligente Lösungen parat hatte, verunsichert die heutige Bildungsmisere die zuständigen Experten beträchtlich. Ihre Hilflosigkeit wird seit Jahren öffentlich kundgetan (Hartmut von Hentig, 2003; Wolfgang Bergmann im SPIEGEL Nr. 14/2009).

Wenn ich mich unter meinen Mitmenschen umschaue, begegnen mir überall Varianten einer blutleeren und etwas angegrauten Halblebigkeit. Es kommt mir vor, als führten Viele eine Art Secondhandexistenz. Oft schlägt mir eine gedrückte Grundstimmung entgegen - bei aller offenkundigen Lebendigkeit meiner Zeitgenossen. Ein „öffentlich-rechtlicher“ TV-Sender gab im Jahr 2017 bekannt, dass ca. fünfzehn Millionen Erwachsene in Deutschland mehr oder weniger depressiv seien. Dazu kämen noch ca. fünf Millionen, die ihre Depressivität durch Nikotin-, Alkohol- und andere Süchte wegdrücken bzw. verheimlichen (meistens Männer).

Selbst diejenigen, die in ihrem Beruf ihre Aufgabe gefunden haben, vegetieren in einer leicht zu durchschauenden Pseudovitalität dahin. Manche versuchen, durch absurde Exzesse ihr Lebensgefühl zu steigern. Andere leben in ständiger Unruhe und verfallen einem sinnwidrigen Aktionismus. Der Psychiater Michael Winterhoff diagnostiziert bei einigen rührigen Zeitgenossen so etwas wie

„agitierte Depression“ (2009).

Die „Agitation“ äußert sich oft als unzufriedene Nörgelei des „Wutbürgers“, dessen Empörung in sich zusammenfällt, sobald die Beseitigung ihres Anlasses zu viel Aufwand kostet.

Wie z. B. soll man erklären, dass es vielen von uns kalendarisch Erwachsenen so schwerfällt, mit ganzer Seele und aus vollem Herzen erwachsen zu sein? Vielleicht weil wir es niemals mit ganzer Seele und aus vollem Herzen sein durften? - - Ein beschwingter und optimistischer Entschluss dazu kam auf unserem Bildungsweg nicht vor. Er war von den bestallten Experten nicht eingeplant, obwohl die jeden Entwicklungsschritt bis ins Kleinste schon vorbedacht hatten.

Der freie individuelle Entschluss hin zu einem wachen Erwachsensein wurde durch den obrigkeitlichen Beschluss ersetzt, jeden nach Erreichen eines bestimmten Alters zum Erwachsenen zu stempeln und ihm von da an ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben. Ein derart zum „Erwachsenen“ gemachter Mensch wird offensichtlich nicht anders wie ein großes Kind behandelt. Johannes Beck (1994) spricht denn auch von „Infantilisierung der Gesellschaft“. -

„Kein Wort im Evangelio ist mehr in unseren Tagen befolgt worden, als das WERDET WIE DIE KINDLEIN“,

bemerkte der mit seinem Sarkasmus nicht gerade zimperliche Georg Christoph Lichtenberg schon vor über zweihundert Jahren.

Den meisten ist das Erwachsensein nur äußerlich angewachsen. Erst das Berufsleben zwingt dazu, eine Form eher unzufriedenen Erwachsenseins zu akzeptieren. Wie aufgesetzt wirkt das Verhalten von Leuten, die - nie wahrhaft erwachsen geworden - es nun auf Teufelkommheraus sein sollen, insbesondere die Schullehrer als Beispielgeber der Jugend oder die Politiker als „Repräsentanten des Volkes“. Sie geben sich reif und gesetzt, weil ihre gesellschaftliche Stellung es ihnen abverlangt. Eine entsprechende Rollenerwartung verlangt es ihnen ab.

Eine weitere Erscheinung fällt ins Auge. Die heutige Form der Persönlichkeitsbildung schafft dort, wo sie nicht geradezu Aggressivität hervorbringt, die Mentalität von Versorgungsempfängern. Sie stärkt nicht, sie schwächt. Sie züchtet das Bedürfnis, Staatsbeamter, Pfarrer, Sozialarbeiter, Arzt, Apotheker (am Nabel der Staatskasse) oder sonst-wie gesicherter Bediensteter zu werden.

Zu vermuten ist auch, dass das heutige Bildungsverständnis einen Großteil der Versorgungsfälle der „Randgesellschaft“ schafft, die dann ein zentral gelenktes System durchfüttern muss. Sollten hier Staat und Kirche einmal ausfallen, bedürfte es eines immensen Maßes privater Barmherzigkeit, um das Massensterben auch in jenen Regionen zu verhindern, wo die Verelendung heute noch halbwegs kaschiert werden kann.

Das mangelhaft ausgebildete Bewusstsein der Selbstverantwortung für die eigene Existenz bei großen Bevölkerungsgruppen der sogenannten „Sozialstaaten“ steht im krassen Widerspruch zu deren Beteuerung, die optimale Volksbildung leisten zu können.

Das alles sind erschreckende Beobachtungen. Es entwickeln sich im Zuge des Heranwachsens der Menschen in heutigen Gesellschaften Seelenstrukturen, die nicht zur Natur des Menschen passen. Offenbar stimmt mit der Persönlichkeitsentwicklung in unserem Kulturkreis grundsätzlich etwas nicht.
Es lassen sich sicher eine Reihe von Gründen für die soeben beschriebenen Zeiterscheinungen ins Feld führen. Ich möchte aber in zukünftigen Artikeln nur jenen Gründen nachgehen, die für das Zusammenspiel von Bildung und Freiheit relevant sind.

euer Zeitgedanken.

Sort:  
Loading...

@indextrader24 denkt du hast ein Vote durch @investinthefutur verdient!
@indextrader24 thinks you have earned a vote of @investinthefutur !