Der lange Weg zur Mündigkeit

in #deutsch2 years ago (edited)

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Theseus im Kampf mit den Ungeheuern der Erziehung

Gekürzte und überarbeitete Fassung einer Diplomansprache am
Real- und Oberstufen- Lehrerseminar Zürich,

Niemand hat Erziehung nur in ihren positiven Aspekten genossen, es geht immer auch darum, ihre negativen Aspekte zu überstehen und zu überwinden. Das schreckliche und eindrückliche Gegenbild zur Vielfalt der Chancen und der Massstäbe ist der Wegelagerer Prokrustes aus der griechischen Theseussage. Prokrustes pflegte seine Kandidaten einem Examen zu unterziehen, das in der Regel den Tod des Prüflings zur Folge hatte. Wer soeben ein Abschlussexamen erfolgreich hinter sich gebracht hat, vermag wohl daher der Episode ihren eigenen Reiz abzugewinnen. Wichtig ist aber ihre Botschaft wohl für alle, welche selbst einmal in der Rolle der Erziehenden und Examinierenden aufzutreten haben.

Die Geschichte des Theseus ist wohl heute – leider – nicht mehr allgemeines Bildungsgut, aber die Methode des Prokrustes ist in einem auf Gleichheit ausgerichteten Bildungswesen noch immer weit verbreitet. Zunächst eine kurze Zusammenfassung:

“Prokrustes lebte an der Strasse. In seinem Haus hatte er zwei Betten, ein kleines und ein grosses, die er den Reisenden als Nachtlager anbot. Die kleinen Männer legte er in das grosse Bett und streckte sie so lange, bis sie genau in das Bett passten. Die grossen Männer aber legte er in das kleine Bett und schnitt so viel von ihren Beinen ab, wie über die Bettlänge hinausragte. Manche behaupten, er hätte nur ein Bett mit verstellbaren Brettern verwendet, die er nach der Grösse seiner Opfer länger oder kürzer machen konnte. Theseus liess Prokrustes das gleiche Geschick erleiden, das er anderen zugedacht hatte.“ (aus: Robert von Ranke Graves, Die Götter Griechenlands. Die klassischen Mythen und Sagen, Reinbek 1981, Rowohlt)

Prokrustes ist vielleicht das bekannteste, aber nicht das einzige Ungeheuer, mit dem Theseus auf seinem Bildungs-Weg von Korinth nach Athen zu kämpfen hatte. Auch die anderen Ungeheuer symbolisieren uralte Auswüchse pädagogischen Bemühens. Nur wer sich dagegen als resistent erweist, wird zum mündigen Erwachsenen.

Theseus ist bei Pflegeeltern aufgewachsen. Als er dem Kindesalter entwachsen ist, hat er zunächst einen „Reifetest“ zu bestehen, der sehr symbolträchtig ist. Unter einem grossen Stein sind die Sandalen und das Schwert seines leiblichen Vaters begraben. Sobald er den Stein aus eigener Kraft wegwälzen kann, darf er „in Vaters Fussstapfen treten“ und die zwischen dem steinigen Boden der Realität und dem menschlichen Körper schützende und tragende traditionelle Fussbekleidung anziehen. Das väterliche Schwert ist wohl nicht nur als Waffe, sondern auch als Kraft der Unterscheidung und der Entscheidung zu deuten. Also ausgerüstet macht er sich auf, um die von Wegelagerern bedrohte Küstenstrasse von Korinth nach Athen wieder sicher zu machen.

Zuerst trifft er auf Periphetes, den „Viel-Herumgesprochenen“, der als Krüppel geschildert wird und mit seiner mächtigen ehernen Keule die Vorbeireisenden erschlägt. Diese Keule ist für mich die geballte Kraft des Vielwissens, die auf die armen Schüler und Studierenden niedersaust. Periphetes ist das Ungeheuer der Fülle des Wissensstoffes.

Wissen ist Macht, Macht, die erschlägt, wenn man nicht in der Lage ist, sich diese Macht auch als Gegenmacht anzueignen. Ohne eine „eiserne Reserve des Wissens“ kommt man nicht weiter und glücklicherweise gelingt es Theseus, dem Keulenmann seine Waffe zu entreissen und ihn zu erschlagen.

Der zweite Wegelagerer, dem er begegnet, ist Sinis, der Fichtenbieger. Er bindet seine Opfer zwischen zwei heruntergebogene Wipfel, sodass sie zerreissen, wenn er die Bäume loslässt. Der Fichtenbieger ist das Ungeheuer des übertriebenen Leistungsprinzips, der Überforderer, der den Bogen überspannt. Interessanterweise ist er nicht allein, sondern hat eine durchaus sympathische Tochter, Perigune, die sich im Gebüsch versteckt, bis sie gefunden und herbeigerufen wird. Das gute Prinzip der Herausforderung durch den Appell an die Leistungsbereitschaft befindet sich in unmittelbarer Nähe des tödlichen Überforderers. So hat vielleicht jedes pädagogische Zerrbild und Ungeheuer eine verborgene Tochter, welche die durchaus heilsame Dosis desselben Prinzips verkörpert.

Das dritte Ungeheuer ist Phaia, welche eine gefährliche Wildsau auf die Passanten loslässt. Diese Sau kann als Symbol der ungehemmten Steuerung durch Triebe aufgefasst werden, bzw. die Pädagogik, die ausschliesslich „Lust statt Leistung“ oder „Lust statt Frust“ verheisst und den Laissez-faire-Stil in Reinkultur pflegt. Theseus erschlägt auch dieses Ungeheuer.

Der vierte Wegelagerer heisst Skiron. Er sitzt an einer Klippe und verlangt, dass man ihm die Füsse wasche. Darin erkenne ich die pädagogische Ungeheuerlichkeit, Anpassung im Sinn der Unterwerfung und der Liebedienerei zu verlangen. Wir kennen alle diese gefährliche Ausrichtung auf Fremderwartungen, die dazu führt, dass Menschen nur noch das tun, was man von ihnen erwartet, anstelle dessen, was sie – und vielleicht nur sie – zu bieten haben.

Theseus weigert sich natürlich, diesen Dienst zu erweisen und er kippt den Anmassenden mitsamt seiner Schüssel ins Meer. Bei der Fusswaschung als Ausdruck des Dienens erinnern Sie sich vielleicht an das Neue Testament. Dort wird dieser symbolträchtige Dienst vom Lehrer und Meister offeriert und praktiziert. Ein Vorbild, das weit über alle politische Bildung und Pädagogik hinausweist und gegenüber dem alle hier erwähnten Zerrbilder verblassen.

Das fünfte Ungeheuer ist Kerkyon, der die Reisenden zum Zweikampf herausfordert und mit seinen starken Armen erdrückt. Er verkörpert die Ungeheuerlichkeit, die eine exzessive Anwendung des Wettbewerbsprinzips in der Erziehung mit sich bringen. Theseus überwindet Kerkyon nicht, weil er selbst stärker ist, sondern weil er das gegnerische Prinzip der rohen Kraft gegen ihn selbst wirken lässt. Er besiegt Kraft durch Kunst und wendet dabei eine Art des Kampfes an, die uns heute an den japanischen Ringkampfsport erinnert. Mit dieser Kunst des Ringens überwindet er das an sich unüberwindliche Prinzip, nicht indem er es abschafft, sondern indem er seine produktiven Kräfte nutzt.

Als sechster Wegelagerer tritt Prokrustes auf, der exzessive Gleichmacher, der eingangs ausführlich vorgestellt worden ist. Statt menschengerechten Massstäben will er massstabgerechte Menschen erzwingen. Prokrustes erleidet durch Theseus dasselbe Geschick wie die anderen Wegelagerer: die klassische pädagogische Vergeltung „wie Du mir, so ich Dir...“.

Schliesslich erreicht Theseus Athen, wo auf ihn als junger König neue Herausforderungen warten.

So wie ich den „langen Marsch des Theseus nach Athen“ deute, fasse ich die 6 Gefahren, die er überwunden hat, noch einmal thesenartig zusammen, ohne daraus nun neue „Prokrustesbetten“ machen zu wollen. Wir beschreiten den gemeinsamen Weg zur Mündigkeit, wenn wir wie Theseus den pädagogischen Übertreibungen um uns und in uns entgehen, indem wir:

  1. die Stoffüberfülle mit der eisernen Keule des Grundwissens niederschlagen,
  2. die Überforderungen in Herausforderungen verwandeln,
  3. den Verwirrungen des Triebchaos durch das Setzen klarer Grenzen entgehen,
  4. die vollständige Unterwerfung unter Personen verweigern, und nie ausschliesslich das tun, was andere erwarten, sondern das, was wir anderen zu bieten haben,
  5. die Auseinandersetzung im Wettbewerb mit anderen eigenständig anpacken und das Prinzip überwinden, nicht indem wir es abschaffen, sondern indem wir es produktiv nutzen,
  6. den Gefahren der Gleichschaltung durch Ausschaltung der Gleichschalter begegnen.

So können wir unser eigenes „Athen“ erreichen und dort die Königswürde der Mündigkeit empfangen. Viel Glück!

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Lieber Robert,
schön, dass Du wieder da bist.
Ich empfehle deine Texte in nachfolgender Gruppe zu schreiben (und dann mittels re-hive in deinen Blog zu integrieren).
Wäre schade, wenn sie keiner sieht.
Hier der Link zur Deutch-CH-A-Gruppe:
https://peakd.com/c/hive-121566

Lieber Stephan,

der Weihnachtsmann kommt dieses Jahr nicht, weil er Quarantäne muss, nachdem er Kontakt zu zahllosen C-Kindern hatte.

Gleichwohl wünsche ich Dir und Deinen Liebsten ein frohes Fest und eine besinnliche Weihnacht.

Feiert recht schön - mit oder ohne !BEER - ist egal!

Beste Grüße.

Ich wünsche Dir und deiner Familie auch ein frohes Fest.

Danke!

!LUV


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