Hilferuf und Warnung! Ich folgte einem sonderbaren U-Bahn-Passagier. Wort zu Halloween.

in #halloween7 years ago (edited)

Mein Name lautet Andrew Erics. Einst lebte ich in einer Stadt namens New York. Meine Mutter ist Terrie Erics. Sie steht im Telefonbuch. Wenn du die Stadt kennst, und das hier liest, dann finde sie. Zeig‘ ihr das hier nicht, aber sag‘ ihr, dass ich sie liebe, und dass ich versuche, nachhause zu kommen. Bitte.
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Es fing alles an, als ich mich dafür entschied, nicht mehr meinen Rucksack zur Arbeit zu nehmen. Da wurde ich gerade 25. Würde ich nicht mehr die Büchertasche überall hin mitschleppen wie ein Schüler, sähe ich erwachsener aus. Natürlich bedeutete dies, dass ich nicht mehr morgens und abends in der U-Bahn lesen konnte, weil kein Buch in meine Hosentasche passte. Ein Aktenkoffer wäre für mich als Fabrikarbeiter unangebracht, und Umhängetaschen kommen mir, ich weiß nicht, zu schwuchtelig vor. Für meinen Geschmack ähneln sie Handtaschen zu sehr.

Ich hatte einen MP3-Player, welcher eine Weile lang dabei half, die Zeit totzuschlagen, doch er ging kaputt – er würde sich am Ende jeden Songs selbst ausschalten, es sei denn, ich würde sie eigenhändig überspringen – damit hörte ich auch auf. Also würde ich jeden Morgen eine halbe Stunde lang in der Bahn sitzen, was sich wie eine Ewigkeit anfühlen würde, und ich hätte nichts anderes zu tun, als meine Mitpassagiere zu beobachten. Ich war etwas schüchtern, also mochte ich nicht erwischt werden. Also sah ich sie heimlich an. Interessanterweise stellte ich schnell fest, dass ich nicht die einzige Person auf der Welt war, die sich in der Öffentlichkeit unwohl fühlte.
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Die Leute vertuschten es auf verschiedene Arten, doch ich lernte, sie zu durchschauen. Im Kopf unterteilte ich sie in Kategorien. Es gab Fummler, die nicht zur Ruhe kommen konnten, sie bewegten andauernd ihre Hände, verlagerten das Gewicht, zogen ihre Beine zum Sitz hin, und streckten sie dann weg. Diese war die am auffälligsten nervöse Sorte. Von ihnen gefolgt waren die Trugschläfer, die auf ihrem Sitz Platz nahmen und praktisch ihre Augen in derselben Sekunde schlossen. Die meisten von ihnen schliefen aber nicht wirklich. Die echten Schlafenden zuckten öfter und schreckten bei Stopps und lauten Geräuschen auf. Die Faker nickten beim Hinsetzen ein und wachten auf, wenn die Bahn ihre Haltestelle erreichte. Dann gab es noch die MP3-Playersüchtigen, hier und da ein paar Laptopmenschen, Leute, die zusammen in Gruppen fuhren und laut redeten. Die Handysuchtis waren entweder sehr beliebt, oder einfach nur komplett außer Stande für mehr als 2 Minuten am Stück die Schnauze zu halten.

Gerade, als das Beobachten von Leuten unerträglich langweilig zu werden drohte, fand ich meine erste Unstimmigkeit. Ein Mann, dem Aussehen nach mittleren Alters, braunes Haar, durchschnittliche Größe und Gewicht, und leger gekleidet. Komischerweise war seine Erscheinung fast schon zu normal. Er hat keine außergewöhnlichen Merkmale und keine Eigentümlichkeit, so als wäre er geschaffen, um in der Menge unterzugehen. Dies war, was dazu führte, dass ich ihn bemerkte – Ich versuchte vorsätzlich zu sehen, was die Leute in der U-Bahn machten, und er machte überhaupt nichts. Keine Reaktion. Es war, als würde man jemanden sehen, der vorm Fernseher sitzt und sich eine Dokumentation über Fische anschaut; der ist nicht aufgeregt, nicht bewegt, doch wegschauen tut er auch nicht. Anwesend, aber nicht verschuldet.

Er war nachmittags in der U-Bahn. Erst nach mehr als einem Monat des Beobachtungsexperiments fiel er mir auf, da ich nicht jeden Tag die gleiche Bahn erwischte, und mich nicht bewusst in den gleichen Wagon setzte. Ich sah ihn zum ersten Mal an einem Montag, glaube ich, und zum zweiten Mal am Donnerstag in der gleichen Woche. Er erwischte offensichtlich den gleichen Zug, und saß im gleichen Wagon – sogar am gleichen Platz. Ein bisschen zwangsgestört? Dachte ich damals. Weil er meine Aufmerksamkeit beim ersten Mal so sehr auf sich zog, beobachtete ich ihn beim nächsten Mal aufmerksamer. Er war ehrlich gesagt total beunruhigend. Er machte überhaupt gar nichts. Er saß da, ausdruckslos, den Blick nach vorne gerichtet, egal, was geschah. Eine Frau mit einem jammernden Kind betrat den Wagon und setzte sich direkt hinter ihn, und immer noch nichts. Er drehte nicht mal den Kopf oder blickte finster drein. Und das Kind war auch noch laut wie die Sau.

Als die U-Bahn meine Haltestelle erreichte, war mir mulmig zu Mute, und als ich aus dem Wagon ausstieg, zitterten meine Hände, als hätte ich einen Nikotinanfall. Etwas war an diesem Mann falsch. Er war, dachte ich, irgendein Freak. Ein Soziopath, vielleicht einer der Schweigsamen, bei denen sich herausstellt, dass sie ein Dutzend Frauenköpfe in der Gefriertruhe haben, das erste Opfer seine Mutter.

Ich ertappte mich dabei, wie ich am Nachmittag nach der Arbeit absichtlich trödelte. Ich bummelte in den Kiosken im Einkaufszentrum neben der U-Bahnstation, auch wenn ich nichts kaufen wollte. Ein paar Wochen lang vermied ich diese eine U-Bahn, und wenn ich mich an der Haltestelle vorgefunden hätte, an der sie hielt, hätte ich mich vergewissert, in einen Bahnwagon zu steigen, der möglichst weit weg von demjenigen war, in dem ich ihn gesehen hatte.

Dann, eines Morgens, sah ich eine weitere Person, bei der mir die Alarmglocken in meinem Kopf schrillten.

Eine Frau, genauso schlichtaussehend, genauso fehl am Platz inmitten des Gedränges und der Unruhe. Später hätte ich bemerkt, dass in dem Moment, als ich sie sah, meine Obsession begann. Mein Menschenschauen, was ein bisschen als Hobby angefangen hatte, um Langeweile zu bekämpfen, wurde so etwas wie eine Religion für mich. Ich konnte keine U-Bahn oder keinen Bus betreten, ohne mich dabei zu erwischen, wie ich jeden musterte und dabei eine gedankliche Checkliste durchging. Schlichte Kleidung, einfarbig, kein Markenlogo? Check. Kein Gesichtsausdruck, keine flüchtigen Blicke aus den Fenstern oder zu den anderen Passagieren? Check. Keine Koffer, Handtaschen oder Accessoires? Check. Check, check, check, hier haben wir noch einen. Ich nannte sie die Fremden.

Ich sah sie nicht jeden Tag, selbst nachdem ich anfing, die Bahn öfter zu nehmen, als ich musste, selbst wenn ich abends ziellos mit dem Bus fuhr. Doch sie waren da, oft genug. Beim Anblick erschauderte ich, meine Handflächen schwitzten, und mein Hals würde trocken. Wenn du jemals eine Rede gehalten hast, kennst du das Gefühl. Auch wenn sie mir nicht einmal ein bisschen Aufmerksamkeit schenkten, fühlte ich mich vor ihnen entblößt. Ich konnte sie sehen, sonnenklar. Wie konnte es sein, dass sie mich nicht bemerkten?

Das taten sie jedoch, allerdings nicht auf eine Art, die ich erkennen konnte. Und als meine Neugier endlich meine Angst übermannte, entschied ich, einem von ihnen zu folgen. Ich wählte den aus, den ich zu allererst entdeckt hatte. Es war der Mann, der nachmittags mit der U-Bahn fuhr, und der immer den gleichen Sitzplatz hatte.

Ich stieg ein und nahm hinter ihm Platz. Wir erreichten die Endstation, und er stand auf und trat aus, bevor ich es tat. Ich hielt mich hinter ihm auf Abstand, doch er ging nicht weit. Er setzte sich auf eine Bank in der Nähe, so ausdruckslos wie immer, und ich bog ums Eck und wartete. Ich versuchte, unbekümmert auszusehen. Nach einigen Minuten kam die nächste Metro an und ich sah ihm dabei zu, wie er eintrat und den gleichen Platz aussuchte. Ich hatte nicht den Nerv, ihm zu folgen.

Er ging nirgends hin! Er fuhr mit der Metro lediglich zur Endstation, und dann was? Zurückfahren? Welchen möglichen Grund könnte er oder irgendwer sonst dafür haben? Es wurmte mich, noch lange nachdem ich einen späteren Zug nachhause genommen hatte, und versucht hatte, zu schlafen. Ich konnte es nicht sein lassen, nicht, bis ich eine Erklärung gefunden hätte. Ich war mehr als verwirrt – ich war jetzt regelrecht wütend. Warum fuhr dieser unheimliche Bastard, diese nahezu unmenschliche Person, U-Bahnzüge hin und zurück, ziellos?

Der Verstand, habe ich mal gelesen, schreckt vor manchen Dingen zurück, denn der schiere Anblick ist eine Beleidigung. Spinnen lösen es in vielen Menschen aus, insbesondere die großen. Sie sehen für uns falsch aus, fremdartig. Das war der Effekt, den die Fremden langsam auf mich hatten. Sie kränkten meine Sinne.

Ich folgte ihm erneut am nächsten Tag, und am darauffolgenden Tag. Jeden Tag machten wir beide unsere verschwiegene Reise, aber nur ich wusste davon. Gegen Ende der Woche folgte ich ihm stundenlang, bis in dieser Nacht der letzte Zug in der Nähe meiner Wohnung hielt. Wir fuhren von einem Ende der Stadt zum anderen, und dann wieder zurück. Ich beobachtete nicht länger Menschen – ich beobachtete gewisse Personen, ich beobachtete die Fremden. Ich widmete niemandem sonst meine Aufmerksamkeit, obwohl ich aus meinem Augenwinkel bemerkte, dass ich mehr als nur ein paar verwunderte Blicke auf mich zog. Ansonsten könnten wir die einzigen zwei Personen auf dem Planeten sein, wenn es nach mir ginge.

Ich verlor meinen Job in der nächsten Woche. Der Manager war nett, und zurückhaltend, aber bestimmend. Ich wäre nicht bei der Sache, hätte keine Konzentration. Wäre nicht einmal annähernd produktiv. Es war eigentlich eine ziemliche Rede, glaube ich, ich konnte es kaum hören. Alles, woran ich denken konnte, war meine neue Arbeit, mein Vigil. Was würde der Mann, nein, dieses Ding, anstellen, wenn ich nicht da wäre, um ihn zu beobachten? Ich verließ die Arbeit zum letzten Mal an diesem Mittag. Normalerweise hätte ich um 5:30 angefangen, meiner Zielperson zu folgen. Ich war mir aber sicher, dass er auf mich warten würde.

Jetzt wünschte ich, ich wäre an diesem Tag aufmerksamer gewesen. War es sonnig? Es war letztendlich Sommer. Ich hätte durch die Innenstadt laufen können und vielleicht ein paar schöne Mädels auschecken können. Hätte einen Eiscappuccino trinken und eine Zigarette rauchen können, und danach wäre ich nachhause gegangen. Hätte mir meine Besessenheit aus dem Kopf schlagen können. Hätte einen neuen Job gefunden und hätte in der Bahn und im Bus wieder Bücher gelesen. Stattdessen wartete ich.

Mehr als ein Zug rauschte vorbei. Ich war mindestens eine Stunde lang an der Haltestelle gesessen, bis ich ihn durch das Fenster sah. Ich ging in den U-Bahnwagon und bemerkte, dass ich keinen kalten Schweiß auf der Haut hatte, meine Hände nicht zitterten, und mein Herz nicht raste. Ich saß zum ersten Mal direkt ihm gegenüber, genau in seiner Sichtlinie. Ich suchte nach einer Veränderung in seiner Mimik. Würde er mich erkennen? Falls er das tat, gäbe es kein Anzeichen dafür, und ich sah genau hin. Wir mussten ein ziemliches Duo gewesen sein, sich nachmittags gegenübersitzend, sich ins Gesicht starrend. Es war schwer, nicht zuzulassen, dass die aufkeimende Wut in mir mein Gesicht verzerren würde. Mit Anstrengung konnte ich jedoch genauso still und ausdruckslos sein wie er. Innerlich schrie ich ihn regelrecht an. Reagier‘ auf mich, du blödes Arschloch! Sieh mich an, verdammt. Ich weiß, was du bist!
Aber eigentlich nicht, und auf meine stummen Forderungen wurde nicht geantwortet, nicht bei der ersten Rundfahrt oder der zweiten oder der dritten oder der zehnten.

Wir fuhren zusammen bis tief in die Nacht hinein, und an jeder Endhaltestelle stiegen wir zusammen aus und warteten. Ich saß neben ihm auf der Bank, betrachtete ihn aus dem Augenwinkel und bekam immer noch nichts von ihm. Aber zu zweit kann man das Spiel auch spielen.

Endlich traten wir zu unserer letzten gemeinsamen Fahrt an. Ich hatte ihn und wusste es. Letzte Fahrt für die Nacht, bevor die Züge abgestellt werden. Ich ließ ihn an diesem Zeitpunkt immer entwischen, weil die Endstation weit entfernt von meinem zuhause ist und die Busse zur gleichen Zeit wie die Züge abgestellt werden. Doch diesmal würde ich ihm folgen und endlich sehen, was er war, sobald die Züge anhielten. Ich würde vielleicht Antworten erhalten.
Die U-Bahn rollte dahin, und die Spannung stieg. Es wurde langsam um uns herum leer, bis nur noch wir zwei stille Beobachter unter der Stadt zurückbleiben würden. Ich kämpfte, um mir ein manisches Grinsen zu verkneifen. Der U-Bahnzug entschleunigte auf ein Kriechtempo und stoppte dann. Endstation.

Der Fremde bewegte sich nicht, reagierte immer noch nicht. Der Wagon stand still, Türen öffneten sich. Ich konnte gedämpft die letzten paar Nachzügler hören, die sich irgendwo hinter uns ihren Weg aus der Station bahnten, Schritte schallten in der Stille. Nichts. Aus dem Lautsprecher kam ein Ton, der jeden Halbschlafenden darüber informieren sollte, dass wir die Endhaltestelle erreicht hatten. Immer noch nichts. Und endlich konnte ich wieder Schritte hören. Ein Schaffner oder so, der in jeden Wagen spitzte, um sicherzustellen, dass alles leer wäre, bevor er den Zug dorthin bringt, wohin auch immer sie ihn nachts hinbringen. Ich hielt meine Augen starr auf meinen schweigsamen Gejagten.
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Ich konnte den Schaffner aus dem Augenwinkel sehen, als er endlich unseren Wagen erreichte. Er schaute hinein, sein Blick schweifte über uns hinweg, und sein Gesicht bekam einen verblüfften Ausdruck. Er zwinkerte ein paarmal und hielt dann inne. Ich wartete darauf, dass er spricht, und der Moment zog sich dahin, doch dann, nach einem leichten Schütteln des Kopfs, verließ er uns. Da war ein Wagen vor unserem, und ich hörte, wie er stehen blieb, um ihn auch zu überprüfen. Und dann, ein paar Minuten später, fuhr der Zug erneut los. Wir fuhren eine Zeit lang, wendeten dann im Kreis, und dann wurde die U-Bahn geparkt. Ich konnte durch die Fenster weitere Züge neben uns sehen, und durch ihre Fenster sogar noch weitere.

Und dann lächelte er mich an. Es war nur ein leichtes Kräuseln seiner Lippen, das unbemerkt geblieben wäre, hätte ich nicht während der letzten Stunden sein Gesicht studiert. „Also“, sagte er in einem rauen Bariton „Wir sind da.“
Ich versuchte zu antworten, aber konnte nicht auf Anhieb. Mein Hals war fest zugeschlossen. Schrecken erfüllte mich. Es fühlte sich an, als wäre die ganze unterirdische Höhle auf mich zusammengebrochen. Ich hustete und stammelte und endlich schaffte ich es mit einer heiseren Stimme die Frage zu stellen, die mich fast in den Wahnsinn trieb, und mich hierhin brachte: „Was bist du?“

Er ignorierte mich. Er stand da, und die Türen des Zugs gingen auf. Dann, schockierender Weise, drehte er sich um, um mich anzusehen. „Kommst du?“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging raus auf den Bahnstieg. Ich eilte hinterher. „Komm schon, verdammt!“, schrie ich. „Sprich mit mir. Wer bist du? Was? Wieso fährst du die Metro den ganzen Scheißtag?“ Er schaute nicht zurück und wurde nicht langsamer. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, doch gewiss reagierte er überhaupt nicht, nicht mehr als auch auf alles andere. Ich folgte ihm und schrie noch eine Zeit lang, doch irgendwann gab ich auf. Ich schätzte, fünf Wörter wären alles, was ich aus ihm herausbekommen hätte.
Wir gingen den Bahnstieg entlang, bis wir zu einer Kreuzung gelangten, dann bogen wir ab. Jetzt gingen wir senkrecht zu den Zügen um uns herum. Die Züge zu beiden Seiten reichten bis ins Unendliche, soweit ich weiß. Es waren viel zu viele, als das eine Stadt alleine alle warten könnte, wurde mir klar. Es hätte jetzt keinen Unterschied mehr gemacht, dachte ich mir, obwohl ich wahrscheinlich hätte mehr aufpassen sollen.

Ich bin mir nicht sicher, wie lange wir gelaufen sind. Ich habe eine Uhr gehabt, aber sie ist kaputtgegangen. Einmal habe ich mein Handy gezückt, doch es zeigte mir lediglich: „Kein Empfang“. Der Fremde würde ab und zu anhalten, um einen U-Bahnwagen für ein paar Minuten anzusehen, und würde dann weitergehen. Ich brauchte eine Weile, um herauszufinden, warum, doch irgendwann sah ich, dass sie nicht alle gleich waren. Lange Ketten wären ähnlich oder hätten eine ähnliche Form, doch darauf folgten andere Modelle, manche kleiner, manche größer, und manche hatten eine ganz andere Form. Die Fahrerkabinen, oder wie auch immer man den vorderen Teil nennt, in dem der Lokführer sitzt, waren ebenfalls oberflächlich verschieden. Ich wusste nicht und weiß nicht, wonach er genau suchte, aber irgendwann muss er es gefunden haben, denn wir bogen erneut ab, und die Türen der U-Bahn öffneten sich, als mein spontaner Reiseleiter herantrat. Wir stiegen ein und nahmen Platz.

„Wirst du jetzt sprechen?“, fragte ich ihn. Keine Antwort. Ich seufzte frustriert und wog ernsthaft meine Vor- und Nachteile ab, die ich gehabt hätte, hätte ich ihm voll in die Fresse geschlagen. Dann ging plötzlich das Licht an und ich hörte den Motor starten. „Was zur Hölle?“
Er sah mich fast schon traurig an. „Du wirst nicht zurückkehren können.“
„Wovon redest du? Zurückkehren wohin?“ Wieder nichts. Dieses taubstumme Arschloch! Der Zug sprang in Bewegung, entgegengesetzt der Richtung, aus der wir gekommen waren. Glaube ich. Die endlose Zugparade raubte mir den Orientierungssinn. Er fuhr für ein paar Minuten und wurde dann langsamer, als wir auf eine Haltestelle zukamen. Sein leeres Gaffen nahm Form an, und zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass er mich anstarrte, statt nur in die Richtung zu schauen, in der ich zufällig war.

„Sei ruhig, sei still. Errege nicht ihre Aufmerksamkeit.“
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Der Zug hielt an, die Türen gingen auf, und sie begannen hineinzuströmen. Ich weiß nicht mehr, was ich zuerst bemerkte – die seltsamen Klamotten, die zu langen Arme mit Händen, die über den Boden schleiften, die pechschwarzen Augen und die hageren Gesichter oder den blaugrauen Glanz ihrer Haut. Meine Augen nahmen alle Impulse auf, doch für eine lange Sekunde weigerte sich mein Hirn, sie zu verarbeiten, und sobald es das endlich tat, konnte ich kaum das Kreischen runterschlucken, dass sich aus meinem Hals reißen wollte. Ich dachte, mein Herz würde explodieren. Meine Sicht verschwamm, wofür ich dankbar war, und ich kotzte. Mein Mund war fest geschlossen und ich zwang mich dazu, es zu schlucken, was ich nur knapp schaffte. Meine Instinkte schrien mich mit seinen Worten an – Sei ruhig! Sei still! Errege nicht ihre Aufmerksamkeit!

Die Erinnerung ist verschwommen. Wir fuhren die U-Bahnlinie rauf und runter, immer noch ausdruckslos, stundenlang, tagelang. Diese Linie schien mir viel länger als die, die ich kannte und auf der ich dem Fremden gefolgt war. Die abscheulichen Dinger um uns herum schienen uns keine übermäßige Aufmerksamkeit zu schenken, obwohl wir krass auffallen mussten. Ich war versteinert vor Furcht. Als wir endlich zu der endlosen Kaverne mit Zügen zurückkamen, brach ich in Tränen aus, alleine. Ich fiel zu Boden und schluchzte eine lange Zeit lang, der Fremde sieht ungerührt zu.
Als ich mich zusammennahm, sah ich ihn flehend an. „Bring mich heim“, krächzte ich: „Bitte.“
„Ich kann nicht“, sagte er mir. „Weiß nicht welcher von ihnen dich zurückführen würde. Falls überhaupt einer von ihnen das tut“. Er stand auf und ging auf den Bahnstieg, und ich richtete mich erschöpft auf und folgte ihm. Er schnellte herum: „Ich finde, du verfolgst mich inzwischen lange genug.“

Die Wut, die ich zuvor auf ihn hatte, die von der Panik kurzzeitig überschattetet wurde, stieg in mir hoch. „Was?“, schrie ich und stürmte auf ihn zu. Ich packte ihn an den Schultern und mit einem Schub irrwitziger Stärke, die ich nicht zu besitzen wusste, warf ich ihn gegen Seite eines Metrowagens und hielt ihn fest. „Du verdammter Hurensohn, was zur Hölle hast du mir angetan!?“ Ich knallte ihn wieder und wieder gegen den Wagen. „Bring mich zurück!“ Passiv ließ er alles über sich ergehen, und bald erlosch die Flamme der Wut in mir, was mich mit einer inneren Leere zurückließ. „Bitte“, bettelte ich, „bitte bring mich nachhause.“
„So geht das nicht,“ sagte er mir. „Wenn wir zusammenbleiben, ist es wahrscheinlicher, dass wir bemerkt werden. Geh deinen eigenen Weg. Sei still und unauffällig, und sie werden glauben, du wärst einer von ihnen.“
„Wie konntest du mir das antun? Warum?“
Er warf mir einen weiteren, nahezu traurigen Blick zu. „Ich musste. Das wirst du auch. Ab und zu… wirst du steckenbleiben.“ Er streifte meine Hände von seinen Schultern ab, wendete sich von mir ab, und ging weg. Ich fiel auf die Knie, plötzlich kraftlos, und sah ihm zu, wie er mich verließ. An der Kreuzung drehte er sich um, um mich anzusehen. „Es tut mir leid.“ Und dann war er weg.

Ich verblieb hier noch sehr lange, auf dem kalten Boden. Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen und weinte eine Weile lang. Nachdem mir keine Tränen mehr übriggeblieben waren, bekam ich sogar etwas Schlaf.
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Als ich aufwachte, war der U-Bahnzug, mit dem ich gekommen war, schon weggefahren – in die Ferne, und er beförderte weitere blaugraue Scheusale dorthin, wohin blaugraue Scheusale hingehen mögen. Ich hätte es eh nicht ertragen, nochmal dahin zurückzugehen.

Ich versuchte den Weg dorthin zurück zu finden, von wo ich gestartet hatte, doch ich war mir nicht mal mehr sicher, in welche Richtung ich hätte gehen sollen. Ich lief eine Stunde lang, dann eine weitere. Endlich fand ich eine Bahn, die ähnlich aussah. Oder ich war verzweifelt genug, um mir das einzubilden. Als ich vor die Tür trat, öffnete sie sich für mich, und ich setzte mich rein. Sie kam in Fahrt, und obwohl ich ein lebenslanger Agnostiker war, betete ich, was das Zeug hält. Der Zug hielt an, die Türen gingen auf, und einen Augenblick lang glaubte ich, gerettet zu sein. Leute! Menschen! Ich wäre der Gottesfürchtigste Mann der Welt!

Dann bemerkte ich die Augen. Insbesondere das große, dritte Auge in der Mitte der Stirn. Na gut Gott, du kannst mich mal, dachte ich mir.

Sie waren aber leichter zu ertragen als der letzte Haufen, und ich war dankbar dafür. Allerdings blinzelte das dritte Auge unabhängig von den beiden anderen, und das war widerlich. Und wenn einer von ihnen grinste, lachte oder sich mit einem anderen unterhielt, konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass ihre Zähne scharf und missgebildet waren, und zwischen ihnen war gelbgrüner Schmutz. Wenn ich aber vorsichtig und selektiv blind wäre, hätte ich mit etwas Fantasie so tun können, als wäre ich zuhause. Dann trat jedoch einer von ihnen mit einem Sandwich in der Hand ein, und ich bemerkte, dass ich verhungerte. Ich musste schon seit Tagen nichts mehr gegessen oder getrunken haben.
An der nächsten Endstation entschied ich, etwas zu Essen oder zu Trinken zu suchen. Ich weiß nicht, warum ich abwartete, doch es schien wichtig zu sein – bis an die Endhaltestelle zu fahren. Ich kam dort an und brachte es kaum fertig, an die Oberfläche zu gehen. Ich hatte den Fremden niemals den Untergrund verlassen sehen – hatte ihn auch nie essen oder trinken sehen. Mein Magen hätte aber kein nein als Antwort akzeptiert. Ich stählte meinen Mut und versuchte sorgfältig einen neutralen Gesichtsausdruck zu behalten. Dann setzte ich meinen Weg fort und ging raus zur Haltestelle. Und dann war ich verwirrt.

Ich hielt Ausschau nach Fahrstühlen oder Treppen oder so etwas Ähnlichem, doch alles, was ich sah, waren Löcher im Boden, in den Wänden und in der Decke. Klaffende, unregelmäßig große Löcher. Was hätte ich tun sollen? In eins reinspringen? Es ergab für mich keinen Sinn, nicht bis jemand durch eines gekommen wäre. Einer schwebte aus dem Boden heraus und schwebte dann an mir vorbei. Er verzog das Gesicht für eine Sekunde, oder zumindest denke ich, dass er womöglich das Gesicht verzog. Aber was auch immer sie davon abhielt, mich in der U-Bahn als einen Alien zu erkennen, es reichte bis hier hin. Doch leider erlaubte es mir nicht, zu schweben, was anscheinend das Einzige war, womit man dieses U-Bahn-Station-Bienenwaben-Ding verlassen konnte. Fluchend setzte ich meinen Weg im Tunnel fort.
Ich war sauer, verloren, hungrig und erlitt ein Schicksal, das, wenn nicht schlimmer als die Hölle, mindestens doppelt so beknackt und dreimal so unsinnig ist.

Mein Gemütszustand war nicht der Beste, was in meinen Augen eine Entschuldigung für meinen Fehler ist. Normalerweise mache ich eine weite Kurve um Ecken, denn wie jeder weiß, besteht eine gute Chance, jemanden anzurempeln, wenn man an einem öffentlichen Ort scharf um die Ecke biegt. So wie es mir passierte. Ich stieß mit jemandem zusammen, mit einer Frau, und wir fielen zu Boden. Ohne nachzudenken reagierte ich wie jeder New Yorker reagiert hätte – ich nahm es übel. „Herr Gott verflucht, du dumme Schlampe! Pass auf, wo du hingehst!“
Ich bemerkte meinen Fehler, bevor sie es tat. Sie schaute verwundert und verwirrt drein, und als sie mich richtig zur Kenntnis nahm, weiteten sich ihre Augen vor Schreck. Sie sprang – nun ja, schwebte von mir weg und stieß etwas Schreiartiges aus. Ein bisschen jauliger als das, was ich gewohnt war, aber ich verstand schon. Weiter hinten im Tunnel sah ich dreiäugige Alienköpfe, die sich in unsere Richtung drehten. Plötzlich dachte ich an diese spitzen, dreckigen Zähne, und rannte einfach so davon. Der U-Bahnzug war nicht da, doch da verlief ein Gehsteig am Tunnel entlang – für die Reparateure, schätze ich. Immerhin wären sie diejenigen, die ihn dort benutzen, von wo ich herkam. Ich rannte mit voller Geschwindigkeit, bis sich jeder Atemzug wie ein Messerstich anfühlte. Ich hielt an, keuchend, und schaute zurück. Der Tunnel wand sich, deshalb konnte ich kein Licht mehr sehen, aber es schien, als würde mir niemand folgen. Zurückzugehen kam jedoch nicht mehr in Frage.

Ich ging lange voraus in die Dunkelheit. Irgendwann kam ich zu einer kleinen Öffnung in der Wand und blieb dort, um mich auszuruhen. Hunger, Verzweiflung und ein angstgetriebener Sprint hinterließen mich ausgelaugt. Ich hätte möglicherweise wieder geweint, was in letzter Zeit das einzige zu sein schien, was ich konnte, doch das wäre jetzt zu mühsam gewesen. Ich lehnte mich sitzend gegen die Wand, die Beine gespreizt, und stellte mir vor, wie ich diesen scheiß Fremden mit einem Hammer erschlage. Es war eine entspannende Vorstellung.

Eine Ratte trieb nicht weit von mir in der Dunkelheit ihr Unwesen. Hin und wieder würde ich mit dem Fuß ins Leere treten, um sie wegzuscheuchen, doch nach einer Weile ließ ich es sein. Tollwut oder jegliche andere Krankheit, die sie haben könnte, wäre ein Segen im Gegensatz zu der endlosen Reise durch U-Bahnen und seltsame Welten, verloren, mittellos und allein. Als sie wieder nah an mich heranschlich, huschte ich sie nicht weg. Selbst als sie mich erreichte und sich an mein Bein drückte, brachte ich es nicht fertig, mich darum zu sorgen. Nicht bis ein Zug vorbeifuhr und die Lichter aus den Wagen den Abflusskanal erleuchteten, in dem ich war, und das Ding, von dem ich dachte, dass es eine Ratte gewesen wäre.
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Es war wie eine Ratte, ja, aber noch mehr wie eine Spinne. Hätte jemand die beiden miteinander gekreuzt, könnte die daraus resultierende Abscheulichkeit fast so schrecklich sein wie das Ding, das an meinem Bein schnüffelte. Ich kreischte, sprang vom Boden auf und trat es wie ein Fußballspieler direkt in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Sein Rücken knirschte Ekel erregend, als ich ihm zusah, wie es seinen letzten Atemzug auszuckte. Der Zug fuhr vorbei und die Finsternis kehrte zurück.

Und in der Finsternis hatte ich eine grässliche Idee. Ich fragte mich, ob es essbar wäre. Ich wollte nicht, und würgte allein beim Gedanken daran, doch ich war hungrig, und es gab keine Garantie darauf, dass ich an diesem Ort etwas zu Essen finden könnte. Oder ob ich überhaupt jemals wieder etwas zu Essen finden würde. Rattenspinne war meine einzige Option. Ich hielt mich von ihr fern, solange ich konnte, doch letztendlich besiegte der Überlebensinstinkt meine Zimperlichkeit. Ich hatte ein Feuerzeug, aber nichts zum Anzünden. Ich riss Fleisch von seinem Kadaver und grillte es ein wenig, indem ich es über die Flamme hielt, doch es half nicht viel. Nichts hätte geholfen. Das Fleisch war sauer, saurer als alles, was man sich vorstellen kann. Ich war seitdem so verzweifelt nach Nahrung und aß eine Menge fragwürdige Sachen, doch nichts war jemals wieder so übel wie die Rattenspinne.

Wenn ich so zurückblicke, war dies der Moment, in dem ich zu einem Fremden wurde. Davor strengte ich mich an, die ausdruckslose Fassade aufrechtzuerhalten, die die anderen hatten. Was ich für ein ruhiges Gemüt hielt, war Taubheit. Ein scharfer Stein, der in den Fluss fällt, bekommt mit der Zeit seine Kanten vom vorbeirauschenden Wasser abgeschliffen. Und was ich durchmachte, tat das gleiche mit mir. Ein Monster auseinanderzurupfen und zu verspeisen, in der Dunkelheit unter einer Alienwelt, glättete meine letzten Kanten. In dem Augenblick, als ich aus dem Dunklen zurück in den Tunnel trat, war ich so ausdruckslos und leer wie derjenige, der mich hierhergeführt hatte.
Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste kam später, als ich zum ersten Mal steckenblieb. Der Fremde hatte es erwähnt, doch in dem Zustand, in dem ich gewesen war, habe ich es kaum wahrgenommen.

In einer Nacht, an der Endstation, wurde mir gesagt, ich soll den Zug verlassen. Diese Welt war eine der „normaleren“. Die Leute waren fast menschlich, soweit ich sehen konnte. Sie waren Orange, freilich, und buckelig, aber abgesehen davon waren sie praktisch normal. Zumindest nach der letzten Welt, in der die Leute widerlich übergewichtige, sechszitzige Hermaphroditen ohne Nasen waren. Danach sahen die Orangenen in meinen Augen ziemlich schön aus.
Ich dachte zuerst, dass der Lokführer mit jemand anderem redete, doch ich war der einzige im Wagen. Und darüber hinaus verstand ich ihn. Die Orangenen sprachen sicherlich kein Englisch, doch nichtsdestotrotz wusste ich, was sie meinten. Als ich aufstand, begriff ich, wieso. Ich konnte nicht geradestehen. Ich hatte einen Buckel, und war, was ich in der Spiegelung des Fensters feststellte, orange. Ich fügte dann den Rest des Puzzles zusammen. Feststecken bedeutet, dass ich in der Welt gefangen bin und auch aus irgendeinem Grund wie sie aussah. Was ziemlich praktisch wäre, wollte ich die Gelegenheit nutzen, um die U-Bahnstation zu verlassen – was meistens möglich ist, jedoch viel Sorgfalt erfordert und ziemlich anstrengend ist. Alienwelten sind ein bisschen abstoßend, finde ich. Man versucht, sie mit der eigenen zu vergleichen, doch die Unterschiede sind so zahlreich, dass es einfach nur zum Kotzen ist.

Ich verließ die U-Bahn trotzdem, weil es klar war, dass ich in dieser Nacht nicht zum zentralen Knotenpunkt (so nannte ich den unendlichen Bahnhof) gelangen würde. Und auch nicht in einer anderen Nacht, wie ich bald herausfand. Was mich unbemerkt bleiben ließ funktionierte nicht länger. Ich dachte für einen kurzen Moment daran, hier zu bleiben. Doch dieser Ort war nicht meine Heimat, das würde er niemals werden. Auch wenn sie aussahen, wie ich, ihre Kultur musste zwangsläufig anders sein. Diese Lektion hatte ich früher schon gelernt. Sogar in Welten, die meiner verwechselbar ähnlich sahen, lauerten überall Gefahren. Ich war mal in einer Welt, wo die Leute genau wie ich aussahen – naja, eigentlich sahen sie aus wie Brasilianer, doch das war nah dran genug – und ich fand heraus, dass die Geste, die bei mir „hallo“ meint, hier etwas tödlich Beleidigendes bedeutete. Beleidigend genug, dass ich halbtot geschlagen worden war, während eine Menge dabei zustimmend zugesehen hatte.

Außerdem, selbst wenn der Ort eine Kultur hätte, die ich faken könnte, wollte ich nicht bleiben. Ich wollte eines dieser beiden Sachen: meinen Weg nachhause finden oder den Fremden, der mich auf diesen Pfad gebracht hat und ich will ihn richtig zusammenschlagen. Nichts sonst würde mir taugen.
Also wollte ich weitermachen. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob ich einem armen Würstchen das antun könnte, was man mir angetan hatte. Könnte ich wirklich jemand anders dazu zwingen, durch den endlosen Untergrund zu wandern so wie ich? Es stellte sich heraus, dass ich das nicht musste. Nach ein paar Monaten bemerkte mich einer von ihnen, ja, und fing an, mir wochenlang zu folgen. Ich ließ es sehr sorgfältig so aussehen, als hätte ich ihn nicht gesehen, wie der Fremde. Doch ich war zwiegespalten zwischen dem Verlangen, ihn zu warnen, und dem Wunsch, ihn mit zur Endstation zu nehmen, damit ich endlich diese trostlose Welt verlassen könnte.

Letzte Nacht folgte er mir zur Endhaltestelle, so wie ich es auch einst tat. Er brachte allerdings nicht den Mut auf, sich mir direkt gegenüber zu setzen. Und sobald der Zug an der Station anhielt, eilte er davon. Ich wartete, in der Hoffnung, dass mich der Schaffner nicht sehen würde, sodass ich weiterkommen würde, doch vergebens. Ich verließ den Wagen und die Metro fuhr ohne mich weg und ich schimpfte innerlich. Als ich um die Ecke bog, in Richtung Fahrkartenautomat, griff der junge Mann, der mir gefolgt war, an. Er hatte ein böses, gebogenes Messer, und hätte mich überraschen müssen, ich war aber schon jahrelang durch feindselige Alienwelten gereist. Meine Reflexe waren scharf.
Wir rangelten brutal, bevor ich es schaffte, ihm das Messer abzunehmen. Ich wusste nicht, wie es in seinen Hals geraten war. Ich glaube nicht, dass ich ihn töten wollte. Ich war nicht einmal so wütend, wenn ich mich an meinen brennenden Zorn erinnerte, es war lange her. Danach, als er dalag, ausgeblutet, wurde ich stocksauer. Ich trat ihn mehrmals und schrie. „Du Schwein!“, Kick, Kick: „Du solltest mir“, Kick, Kick: „folgen!“ Kick. Ich flüchtete vom Ort des Verbrechens, aber nicht lange. Ich war am nächsten Tag munter und früh wach, um die erste U-Bahn am Morgen zu erwischen. Und in dieser Nacht, als ich mit ihr bis zur Endstation fuhr, war ich wieder unsichtbar für den Schaffner. Ich schätze, man kann sie entweder umbringen oder sie mitnehmen, wenn man zurück zum zentralen Knotenpunkt möchte.
Ich war wieder unsichtbar, aber ich war außerdem immer noch orange und buckelig. Ich blieb so, bis ich ein weiteres Mal steckenblieb. Bis ich ein weiteres Mal tötete. Dieses Mal ging es weitaus schneller vonstatten. Ich wartete nicht darauf, dass sie mir folgt. Sobald ich als Fremder erkannt wurde, erkannte ich sie als die Nächste, und ich traf meine Entscheidung. Ich werde niemanden sonst in das hier verwickeln.

Es lässt mich jedoch über den Fremden rätseln, der mich hier reinbrachte. Ich frage mich, wie er ursprünglich aussah, und ob er wusste, dass er mich töten könnte. Ich wunderte mich auch über die anderen, die ich zuhause gesehen hatte, und über die wenigen anderen, die ich sah, seit ich meine Welt verlassen hatte. Bringen sie sie um, oder nehmen sie sie mit? Und wofür auch immer sie sich entscheiden, betrachten sie es als Gnade? Ich bringe es nicht fertig, sie anzusprechen, sie zu fragen. Wir sind sowieso verdammt, und Verdammte sollten einsam leiden.
Ich habe schon 15 von ihnen ermordet und bin darin ziemlich gut geworden. Doch ich habe eine Entscheidung getroffen. Es ist vorbei mit dem Töten – zumindest, was die Unschuldigen angeht.

Bevor ich zum zentralen Knotenpunkt zurückkehrte, stopfte ich so viel Papier in einen Rucksack wie ich konnte, und ich schrieb diese Geschichte. Wieder und wieder. Ein paar tausend davon, um sie in so vielen Bahnen zu hinterlassen wie ich kann. Flaschenpost, in ein Meer aus Stahlschienen geworfen.
Dies ist eine Bitte und eine Warnung.

Meine Bitte, ganz oben, ist, dass du meine Mutter findest und ihr eine Lüge erzählst. Es ist eine Notlüge, keine Angst. Sag‘ meiner Mutter, dass ich sie liebe, und dass ich versuche, nachhause zu kommen. Es könnte ihr etwas Hoffnung geben oder eine kleine Portion Frieden. Ich wünschte auch, es wäre wahr. Aber das ist das Ding: Ich denke bei mir an Odysseus, verloren und haltlos, auf der Suche, nach einem bekannten Ufer. Doch ich habe mich nicht auf hoher See verirrt. Ich bin verschollen in endlosen Tunnels – im Labyrinth. Der Unterschied gibt Ausschlag, denn Labyrinthe werden geplant und gebaut.

Jemand oder etwas erschuf diesen unmöglichen Ort. Und sie müssen für das zur Rechenschaft gezogen werden, was sie mir angetan haben. Sie typisieren mich als Theseus, nicht als Odysseus, aber ich werde meine Rolle auch nicht länger spielen. Die sonderbaren Regeln dieses Orts verwandelten mich von dem Menschen, der ich war, in etwas anderes, und dann wieder in etwas anderes. Sie machten mich zu einem Monster, und deshalb werde ich der Minotaurus dieses Labyrinths sein. Und wenn ich kann, dann reiße ich die Wände ein, die mich umgeben, und ich werde die zerschlagen, die sie gebaut haben.

Meine Warnung ist, dass du sehr achtsam in der Öffentlichkeit sein solltest, wenn du ausdruckslose Männer und Frauen siehst. Halt‘ dich fern. Sie könnten dich kaltmachen, oder dir noch Schlimmeres antun. Wenn du sie siehst, lauf schnell und weit weg. Und noch wichtiger, ich warne dich, ich flehe dich an: Fahre nicht mit ihnen bis zur Endstation.
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Originaltitel: The Strangers
Autor: N. N.
Übersetzer: Creepostad M
Link zum Original: http://creepypasta.wikia.com/wiki/The_Strangers
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/