Buchrezension: Gerhard Roth - Über den Menschen

Wer bin ich?
Wo komme ich her?
Gibt es einen Geist? Und wenn ja, ist er von "dieser" Welt oder evtl. von "da draußen"?

Diese Fragen treiben die Menschen schon seit Jahrtausenden rum. Hier ist nun der neueste Stand der Wissenschaft.

grafik.png

Im folgenden beschreibe ich, was ich aus dem Buch verstanden habe:

Der Inhalt

Einleitung: Ein neues Menschenbild?
Erstes Kapitel: Vom Wunsch des Menschen, etwas Besonderes zu sein
Zweites Kapitel: Wie wir werden, was wir sind
Drittes Kapitel: Was uns antreibt
Viertes Kapitel: Wie veränderbar sind wir?
Fünftes Kapitel: Das Bestreben, die Anderen zu verstehen
Sechstes Kapitel: Das Ich - Herr oder Knecht?
Siebtes Kapitel: Was macht uns Menschen so intelligent?
Achtes Kapitel: Warum tun Menschen das anderen Menschen an?
Neuntes Kapitel: Krankes Gehirn - kranke Seele?
Zehntes Kapitel: Das Geist-Gehirn-Problem: Gelöst, lösbar oder unlösbar?
Elftes Kapitel: Wie sicher ist unsere Erkenntnis?
Zwölftes Kapitel: Das Gehirn im Streit der Fakultäten
Dreizehntes Kapitel: Ein neues Menschenbild?

Was mir klar geworden ist

Das Schichtenmodell

Das Gehirn besteht aus unterschiedlichen "Modulen". Diese sprechen jeweils ihre eigene Sprache, deren wir nicht mächtig sind. Diese "Vorarbeit" nennt Gerhard Roth das "Unbewusste" (Nicht zu verwechseln mit dem Unter- oder Vorbewussten).
Man kann es vergleichen mit einem Computer, der mit Nullen und Einsen arbeitet, während wir auf der Oberfläche einen 3D-Shooter spielen.
Diese Module erzeugen im Limbischen System Basis-Gefühle wie Angst oder Freude, die in einer Art Schichtenmodell von "unten nach oben" aufgebaut sind. "Oben" wäre dann das Bewußtsein im Cortex.

Gewohnheiten

Die Basalganglien sind zuständig für Automatismen und werden so ab Mitte 20 Jahren immer kompakter und damit schwerer veränderbar. Das bedeutet dass ein Mensch ab dem Alter nur noch schwer seine Gewohnheiten ändern kann. Dazu muss er intrinsisch motiviert sein, aber auch das ist keine Erfolgsgarantie.

Das Ich

Ich bin nicht immer ich. Es hängt von meinen Zuständen ab, wer ich bin. Gerhard Roth listet 10 verschiedene Ichs auf:

  1. Das wahrnehmende Ich
  2. Das denkende Ich
  3. Das emotionale Ich
  4. Das "Identitäts"-Ich
  5. Das Körper-Ich
  6. Das wollende Ich
  7. Das raumzeitliche Ich
  8. Das realisierende Ich
  9. Das selbstreflektierte Ich
  10. Das soziale Ich

Diese Ichs können auch schon mal konträr zueinander sein und erzeugen dann eine "Kognitive Dissonanz", ein eher unschönes Gefühl.
Im Assoziativen Cortex werden diese Ichs je nach Situation gewichtet und gebündelt. Mein "Eigentliches Ich" ist damit eine dynamische Emergenz meiner vielen "Einzel-Ichs".

Temperament

Mein Temperament entsteht im Bauch meiner Mutter und in den ersten Lebensjahren durch Umstände wie (traumatischen) Stress, Mangel, Gifte und andere Umwelteinflüsse.
Ich bin ein Produkt aus meinen Genen, meinen Epigenen (die durch Umstände vor, während und nach meiner Geburt entstehen) und meinem (sozialen) Umfeld.

Der Geist

Der Geist entsteht in den ersten 2 Lebensjahren wie folgt:

  1. Ich nehme mich mit meinen 5 Sinnen wahr. Ich fühle meinen Körper.
  2. Ich nehme das andere wahr, was nicht zu meinem Körper gehört
  3. Ich erzeuge meinen Geist selber durch rekursives Experimentieren mit mir und meiner Umwelt. Dabei entstehen Bilder und Regeln in meinem Kopf, die mein Ich ausmachen.

Es bleibt auch Raum für das Metaphysische. Es ist nicht auszuschließen, das mein Gehirn auch wie eine Antenne für spirituelle Quellen (Gott, Engel,...) empfänglich ist.

Dennoch sollten wir uns von dem dualistischem Bild (Ein inmaterieller Geist oder eine Seele steuern das Gehirn und damit den Körper) trennen, da der Geist erst mit dem Körper entsteht.

Wirklichkeit und Realität

Gerhard Roth trennt zwischen "Wirklichkeit" (dem Weltbild in meinem Kopf) und Realität (das, was tatsächlich außerhalb meines Körpers ist). Diese Wirklichkeit ist nur ein abgespecktes Modell der Realität. Dieses Wirklichkeitsmodell agiert im "Mesokosmos", einer Welt, die verständlich und für unser Überleben relevant ist. Alles andere (z.B. Quantenphysik, Relativitätstheorie,...) können wir uns nicht (wirklich) vorstellen.

Intelligenz

Intelligenz hat zwei Basisfähigkeiten:

  • schnell das Wesentliche zu erfassen
  • vorhandenes Wissen zur Anwendung zu bringen
    (S.179+180)

Wir sind nicht die einzigen intelligenten Wesen im All. Tiere, Pflanzen und auch K.I. können das in unterschiedlicher Ausprägung auch.

Buchzitate, die mir wichtig sind

  • "Wie wir gehört haben, führt das bewusste Wollen des Ichs keineswegs automatisch zum entsprechenden Handeln, sondern ob dies geschieht oder nicht, hängt von vielen anderen Instanzen im Gehirn ab." (S. 175)
  • "Das verlangt im Strafrecht einen radikalen Verzicht auf den Rachegedanken" (S. 233)
  • "Es gibt jedoch einen stabilen Anteil ... die sich durch keine noch so harten Strafen abschrecken lassen... Je härter bzw. länger die Bestrafung, desto wahrscheinlicher der Rückfall" (S. 234)
  • "(Die Erkenntnis)...bedeutet, das Bewusstsein als Folge spezifischer unbewusster Prozesse auftritt, nicht als deren Verursacher." (S. 275)
  • "Es ist bisher niemandem gelungen, die Entstehung des Menschen ausschließlich physikalisch und chemisch zu erklären. Bis zu einer Entwicklung einer Universalwissenschaft, die wahrscheinlich utopisch ist, wird man auf... Brückengesetze... zurückgreifen müssen." (S.318)
  • "... das die dort (Quantenphysik) ablaufenden Prozesse um viele Größenordnungen zu schnell ablaufen und viel zu kurzweitreichig wirken, als dass sie auf makromolekularer Ebene ... eine kausale Rolle spielen könnten." (S. 320)
  • "Heutzutage wissen wir, dass so etwas (Pan-Determinismus) schon rein mathematisch nicht möglich ist." (S.321)
  • "Mit der Frage der ... Determiniertheit ... oder ... Zufall, hat die Frage nach der Willensfreiheit gar nichts zu tun." (S. 322) "... sondern es herrscht die Auffassung vor, dass neben einer physikalisch-neurobiologischen Determiniertheit eine mentale Determiniertheit beziehungsweise eine metaphysische Kausalität am Werk ist." (S.323)
    (Das bedeutet, der Wille entsteht durch die "Hardware" (Gehirn), die Software (Geist) und ggf. noch etwas von "draußen" (Metaphysik).)
  • "Das Gehirn für sich alleine ist nicht überlebensfähig. Auch die Vorstellung eines 'Gehirns im Tank' ... würde nicht funktionieren. (S. 331)

Der Stil

Professor Roth ist ein sehr gebildeter Mensch, der auch außerhalb seiner Kerndisziplin durchaus auf hohem Niveau Bescheid weiß. So habe ich nebenbei noch etwas über Quantenphysik erfahren. Sein Schreibstil ist im Allgemeinen verständlich. Seine Sätze sind meistens nicht zu lang. Dennoch muss man sich bewußt sein, dass dieses Buch keine leichte Lektüre ist, sondern immer wieder dazu zwingt, Denkpausen einzulegen.

Fazit

Ich habe sehr viel über mich und meine Welt gelernt. Mir wurde das Buch von meinem Onkel geschenkt und er hat damit bei mir einen Volltreffer gelandet.
Ich habe nun ein größeres Verständnis über die Vorgänge in meinem Kopf und Körper aber auch viele philosophischen Fragen, wie die nach der Metaphysik und die des Super-Determismus wurden für mich positiv und überzeugend beantwortet.

Fünf von fünf Sternen!

Achim Mertens