Frau Theobald machte sich Sorgen.

in Deutsch D-A-CH2 years ago

Keine Ahnung ob das Folgende noch als #wochen-wahnsinn bezeichnet werden kann, oder wir bereits mit einem Bein in der Tragödie stehen?

[Quelle](https://bilder.t-online.de/b/84/46/41/54/id_84464154/610/tid_da/frau-mit-fernglas.jpg)  **Frau Theobald hat wieder alles genauestens im Blick**

Frau Theobald gehörte zu den Ureinwohnern der Schillerstraße und verbrachte, im direkten Haus neben uns, ihre Zeit sitzend und wenn möglich, nahe am Fenster. War der Fensterplatz überraschender Weise doch einmal unbesetzt, drangsalierte sie in aller Regel mit Vorliebe ihren Sohn. All diese kräftezehrenden Rituale bewerkstelligte sie in eigener Regie – gänzlich ohne Ehemann. Der fand leider nicht mehr den rettenden Weg aus dem Krieg zurück. Vielleicht hatte er auch was anderes vor? Auf jeden Fall blieb er verschollen. So hat zumindest meine Mutter die Erzählungen der Nachbarin für sich interpretiert und schleunigst an ihren Gatten und mich weitergeleitet.
Der Sohn, ein paar Jahre älter als ich und eigentlich, nach den zu erfüllenden Vorgaben meines Kumpels Klaus und meiner Wenigkeit zu beurteilen, trotz allen Einschränkungen, einigermaßen in Ordnung. Für unser Dafürhalten zwar viel zu brav – aber auch solche Typen muss es geben. Aktionen wie, wer am längsten eine Schnecke auf der Zunge im geschlossenen Mund herumkriechen lassen kann, für die war er wirklich nicht zu haben. Klaus und ich akzeptierten dies und kamen letztlich überein, dass der Sohn (bei genauerer Betrachtung) lediglich als arme Sau in einem verkorksten Leben vor sich hin vegetierte.

Frau Theobalds hauptsächliche Aufgabe bestand darin, sich täglich Sorgen zu machen. Vorrangig um ihren Sohn, da der arme Junge über kurz oder lang auf die schiefe Bahn abrutschen könnte. Die theoretische Möglichkeit zu einem solchen Ausritt schien in ihren Augen zumindest nicht ausgeschlossen. Allerdings war ich mir vollkommen sicher, wenn die Alte jemals ihren Sohn mit einem Glas Bier in der Hand angetroffen hätte, eigenhändig hätte sie ihn umgebracht – und anschließend sich selbst. Der Aufregung verschuldet, vielleicht auch umgekehrt? Denn ohne ihren Sohn konnte und wollte sie partout nicht leben. So predigte sie es zumindest meiner Mutter immer wieder in deren für solchen Blödsinn stets offene Ohr. Andererseits, dieser, in unseren Augen unrettbare Schlappschwanz, fügte sich in sein aufgezwungenes Schicksal bedingungslos. Sex mit einem menschlichen Wesen kennt er wohl bis zum heutigen Tag ausschließlich vom Hörensagen.

Eine kleine Ewigkeit scheint es her, da kam es allerdings zu einer fast biblischen Erscheinung der femininen Art. Urplötzlich, wie aus heiterem Himmel heraus, verschlug es ein weibliches Wesen auf der Terrasse der Theobalds. Wie auch nicht anders zu erwarten, hatte meine Mutter die wundersame Offenbarung durch das große Wohnzimmerfenster genau verfolgt. Allerdings so unverhofft, wie das Wunderwesen erschienen war, verschwand sie auch wieder. Meine Mutter wäre nicht meine Mutter, wenn ihr diese Beobachtungen nicht schmerzhaft auf der Zunge gebrannt hätten. Und bevor die Zunge Blasen wirft, fragt man schlicht und einfach nach, was mit der netten, jungen Dame geschehen ist, die doch der eher tristen Terrasse einen gewissen Glanz zu verleihen im Stand gewesen wäre.

Mit der gelieferten Antwort kam ans Tageslicht, dass Frau Theobald, wie nicht anders zu erwarten, sich zuerst Sorgen gemacht hatte und direkt im Anschluss eine einsame Entscheidung traf. "Diese Frau ist mit absoluter Sicherheit nicht der Hauptgewinn für meinen Sohn." Regelverstoß Nr.1: falsche Religion! Da ist der Ärger auf Dauer doch schon vorprogrammiert. Somit kein triftiger Grund für weitere, sich lang hinziehende Diskussionen oder gar Anlass noch mehr Beweggründe für die frühzeitige Disqualifikation darzulegen. Was den Punkt mit der Konfessionszugehörigkeit betraf, konnte ihr meine Mutter guten Gewissens zustimmen. Woraufhin mein Vater seiner Angetrauten den Vogel zeigte und die Befürchtung äußerte, sie habe sich, seiner Einschätzung nach, wohl übermäßig früh von ihrem Verstand verabschiedet. Ich wollte meine Meinung nicht zusätzlich einbringen, fand aber die Einlassungen meines Vaters durchaus berechtigt.

Frau Theobald machte sich jedoch nicht ausschließlich über ihren Sohn Sorgen. Sie sorgte sich über das Wetter, den Garten, der bei näherer Betrachtung nur ein ungepflegter Rasen war, das Dach, den Verkehr und darüber, wie lange der Staat ihr noch die Rente zahlen kann. Alles Sorgen, über die regelmäßig meine Mutter detailliert informiert wurde. Meist, wenn sie am Montagmorgen die Wäsche auf die Leine hing, sich auf unserem Balkon blicken ließ oder sonst aus einem unbekannten Grund ansprechbar schien. Überdies machte sich Frau Theobald noch größte Sorgen, ob wir die Mülltonne rechtzeitig an den Straßenrand stellen. Ohne Witz – die alte Schachtel beobachtete aus ihrem Fenster heraus, ob die Nachbarn ihren Bürgerpflichten den Vorschriften entsprechend nachkamen.

Ein lange geplanter, endlich kurzfristiger Standortwechsel auf unbekanntes Terrain, was in anderen Familien je nach Jahreszeit als Urlaub bezeichnet wird, kam bei Frau Theobald und ihrem Sohn überhaupt nicht in die Tüte. Während einer solch unnützen und zudem nicht kostenlosen Abwechslung würden sich ihre Sorgen von einem auf den anderen Moment nahezu verdoppeln. Nicht genug damit, dass sie sich dann Sorgen machen müsste, ob in der Schillerstraße ohne ihre Anwesenheit die Tüten in die richtige Tonne wandern, nein, die Gefahr wäre unverhältnismäßig hoch, dass sie aus ihrem Hotelzimmer lediglich einen langweiligen Blick auf die Berge und grünen Wiesen oder Wasser und Strand hat. Wobei das Wichtige, sozusagen das, was sich direkt vor der Tür abspielt, exakt dies könnte ihr verborgen bleiben. Wie etwa die Mülltrennung in der Ferienanlage. Aus genannten Gründen wurde irgendwann, von einer Person am Fenster, mit überwältigender Mehrheit innerfamiliär entschieden, freie Minuten im eigenen Zuhause totzuschlagen. Denn dort waren nicht nur der Sohn, sondern außerdem die Häuser der Nachbarn unter ständiger Kontrolle. Überdies konnte sie ganz in Ruhe weiter darüber nachdenken, wenn sie sich nicht gerade Sorgen machen musste, warum in ihrem Garten keine Petersilie, Salat und Karotten, sondern einzig struppiges Gras wuchs, dem sie von früh morgens bis tief in die Nacht beim Wachsen zusah.

Wie anders ist es zu erklären, dass ein paar Jahre zuvor Frau Theobald meine Mutter am frühen Sonntagmorgen des Muttertages mit der Nachricht überraschte, der missratene Sohn der Pfeiffers habe vor Sonnenaufgang in einem bedenklich angetrunkenen Zustand den traditionellen Tulpenschnitt in unserem Vorgarten eingeläutet. Ganz im Sinne der juristisch ausgefeilten Kriminalistik, lieferte sie Porto frei das Motiv, wohl um meinen Eltern die weiteren Ermittlungen in der Sache zu erleichtern. Demnach agierte das verkommene Monster, gefangen im Vollrausch und nicht von der Hand zu weisender Vorahnung, dass am Muttertag ein frischer Strauß Blumen bei der eigenen Mama stets gut ankommt. Für die absolute Frische der niederländischen Massenware war in diesem Fall jedenfalls gesorgt, da die Pfeiffers gerade mal vier Häuser weiter oberhalb von uns in der Schillerstraße wohnten.

Die Nachricht von dem nächtlichen Blumenklau löste bei meinen Eltern, eingefahrenen Traditionen folgend, zwei unterschiedliche Reaktionen aus. Zum einen war man froh zu wissen, dass die Installation einer Überwachungskamera am neuen Eigenheim eine vollkommene Fehlinvestition wäre, solange das Adlerauge von nebenan diese Funktion kostenlos übernimmt. Was den nächtlichen Verlust der Tulpen betrifft, bekamen die beiden sich indes kurz und heftig in die Haare, da meine Mutter das öffentliche Konstrukt aus Recht und Ordnung in Gefahr sah, demzufolge meinem Vater lautstark anwies, sofort bei den Pfeiffers vorstellig zu werden, um unmissverständlich den Unmut der Geschädigten über die hinterlistige Tat Ausdruck zu verleihen. Mein Vater weigerte sich am frühen Sonntagmorgen in die Rolle des Rächers zu schlüpfen und mit dem Auftritt vielleicht einen Flächenbrand auszulösen, der auf weite Teile der Schillerstraße übergreifen könnte. Von einem ruhigen, sachlichen Gespräch mit Herrn Pfeiffer, der in seinen Augen sporadisch einen sehr vernünftigen Eindruck auf ihn mache, sei viel mehr Effektivität zu erwarten, als jetzt mit lautem Geschrei die halbe Straße zu wecken. Zumal der diebische Trunkenbold von der Aktion sowieso nichts mitbekommen würde, da er mit Sicherheit noch seinen Rausch ausschläft und sich vielleicht sogar nachher, mit einem einigermaßen klaren Kopf, fragen wird, wo die Tulpen in der Vase überhaupt herkommen? Diese diplomatische Herangehensweise schmeckte meiner Mutter zwar überhaupt nicht, konnte allerdings zu dem Zeitpunkt keine eigene Initiative mit Hochdruck in die Wege leiten, da ihr Ehemann sie eindringlichst davor warnte, spontan von den Hausschuhen in die Straßenschuhe zu wechseln. Falls jedoch, trotz aller Vorbehalte, zum großen Paukenschlag ausgeholt wird, könne sie sich jegliche Harmonie am Muttertag augenblicklich abschminken. Die Aussicht auf einen einsilbigen Muttertag bewahrte Familie Pfeiffer vor einem frühen Hausbesuch. Stattdessen stellte sich meine Mutter auf den Balkon und ging mit Frau Theobald die Geschehnisse der Nacht nochmals von A bis Z durch.

Rückblickend bleibt jedoch festzustellen, sich ständig Sorgen zu machen, hält das Sterben ziemlich lange von der eigenen Haustür fern.
Allerdings nicht ewig!

Wer den Anfang der Schillerstraße verpasst haben sollte, kann sich hier Entgangenes nachtanken.

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They’re selling pre-sliced fruit at Whole Foods
Hey, that's false advertising!

Credit: reddit
@w74, I sent you an $LOLZ on behalf of @siphon
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... lediglich den Richtlinien der GmbH folgend.
Oder um es anders auszudrücken, dem wahren Leben auf die Finger geschaut.

... schade das es nicht in der GmbH gelandet ist :)))

Keine Bange!
Die Schillerstraße hat mehrere Häuser vorzuweisen - überraschenderweise mit Bewohnern wie du und ich (oder Frau Theobald).

Einfach wunderbar!

LG Michael

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... aus der Feder geflossen, um den Hivianern die Mundwinkel etwas nach oben zu ziehen.
Sollte mir dies gelungen sein, scheint die Mission erfüllt.
Danke für die Investition in die Zukunft. :-)

Kommt mir irgendwie entfernt bekannt vor.

Entfernt?
Jetzt erzähle mir nicht, dass Frau Theobald auch einen Wohnsitz in Hessen und Brandenburg hat?
Davon hatte sie meiner Mutter damals gar nichts erzählt.

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