Interpretation der Matrix-Trilogie

in #deutsch3 years ago (edited)

"What is the Matrix?"

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Ich fiebere, wie viele andere vermutlich auch, "Matrix Resurrections" entgegen und möchte euch gerne meine Interpretation der Trilogie vorstellen. Und zwar indem ich die wichtigsten Charaktere vorstelle und analysiere und dann eine kurze Interpretation liefere.

Es hilft übrigens ungemein, wenn man die Charaktere nicht moralisch beurteilt und bewertet, sondern einfach nur nach ihrer Funktion befragt. Ich halte insbesondere die Frage nach dem Verhältnis zwischen Neo und Smith wichtig.

Übersicht der Charaktere

  • Neo: Wille und Wahrheitssuche
  • Morpheus: Glaube
  • Trinity: Intuition
  • Smith: (Alter) Ego von Neo
  • Orakel: Unterbewusstsein
  • Architekt: Verstandeslogik
  • Merowinger: Machtelite

Neo schwankt zwischen Wachsein und Schlaf, Bewusstem und Unbewusstem und ist ein Wahrheitssuchender. Er ist wie viele andere in der Matrix gefangen, einer neurointeraktiven Simulation, in der die individuelle "Berechnung" der Welt, in ein größeres Bewusstsein (kollektives Unterbewusstes) eingebettet, zur virtuellen Realität aller Menschen wird. Er hat nur ein unvollständiges bzw. verzerrtes Bild von sich und kennt sich selbst gar nicht wirklich, da die Matrix, eine Scheinwelt, ihm auch nur ein Schein-Bild über sich vermittelt. Daraus resultierend führt er seine Handlungen auch nicht als ganzheitliches Wesen aus, das in Übereinstimmung mit sich lebt, sondern als jemand, der einen integralen Bestandteil seiner Persönlichkeit verdrängt: sein (Alter) Ego Agent Smith.

Morpheus glaubt an den freien Willen, also an Neo, sorgt sich väterlich um ihn, kann aber auch ein strenger, herausfordernder Lehrer sein, wie in der Dojo-Szene ("Don't try to hit me and hit me!"). Seine wichtigste Botschaft an Neo lautet, dass er Angst, Unsicherheit und Zweifel ablegen muss.

Trinity stellt eine Verbindung zwischen Neo (Wille) und Morpheus (Glaube) her, indem sie Neo zu Morpheus bringt. Sie sorgt mehrmals für Synchronizität: In "Matrix Revolutions" erreichen die drei Teams, die zur Quelle möchten, ihre Synchronizität nur durch Trinity.
In "Matrix" sorgt sie für die Synchronizität zwischen elektronischer Realität und Matrix ("Follow the white rabbit."). Sie ist nicht nur in Neo verliebt, sondern betont immer wieder, dass sie ihn nie im Stich lassen wird.

Morpheus beschreibt Smith als Wächterprogramm, er ist Neo's (Alter) Ego, repräsentiert aber auch das Ego als solches. Er ist der Bewusstseinsanteil, den die Menschen nur zu gerne bekämpfen und verdrängen. Doch je mehr er bekämpft wird, desto mehr Zwang, Gewalt und Kontrolle übt er seinerseits aus.
Er sehnt sich nach der Vorherrschaft im Bewusstsein. Man könnte grob sagen, dass alles, was Smith den Menschen vorwirft (z. B. dass sie ein Virus sind) auch für ihn gilt. Sie sehnen sich genau wie er nach Herrschaft – sie ist das Grundproblem schlechthin.

Während Smith Neo's Angst vor Lebendigkeit, die Angst vor den Unwägbarkeiten des Lebens, repräsentiert, steht Neo für Smith's Angst vor dem Tod. Neo hat also Angst vor dem Tod und Smith Angst vor dem Leben.

Das Orakel (möglicherweise repräsentiert sie das Unterbewusstsein) lässt Freiheit für Selbsterkenntnis bzw. Selbsterfahrung. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen Unmöglichkeit und Möglichkeit. Insofern sorgt sie durch ihre Entscheidungen immer wieder für Wunder.

Sie sagt z. B. Trinity, dass sie sich in den Auserwählten verlieben wird, der daraufhin "stirbt", lässt aber dabei einen Spielraum, eine Hintertür offen. Denn das Sterben war allegorisch gemeint. Neo hat mit seinem (Alter) Ego gekämpft (Smith) und dadurch nicht nur seine Todesangst besiegt, sondern gleichzeitig den Tod.
Auch dass Smith es in der Form des Bane in die Realität schafft, grenzt an ein Wunder. Während Neo es für unmöglich hält, hält Smith es für unausweichlich.

Das Orakel ist wichtig für die Matrix, da die Menschen durch es ermutigt, auch "zu viel" Wissen (dass z. B. in der Matrix der Geist über der Materie steht) anhäufen können, was ihnen einen Ausgang aus der Matrix (eine Art Hintertür) bietet, der sie das Programm besser akzeptieren lässt.

Der Architekt (möglicherweise repräsentiert er Verstandeslogik) ist der "Herr über die Möglichkeiten" innerhalb der Matrix, mag es aber nicht, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Wenn alles so eintritt, wie er sich ausgerechnet hat, fühlt er sich bestätigt und empfindet "Perfektion" und "Harmonie". Er ist im wahrsten Sinne des Wortes "NEOphob".
Je mehr Menschen befreit werden und aufwachen, desto stärker wird seine Kontrolle, die sogar dazu führen kann, dass er und das Orakel die Matrix neu starten, was in der Trilogie auch tatsächlich passiert.
Auch Commander Lock repräsentiert das Verstandesdenken ("That's the problem with you people. You can't think but five minutes in front of your face."), während die Mitglieder des hohen Rats in Zion eher für das Unterbewusstsein stehen und auch unwahrscheinliche Möglichkeiten und Ausgänge berücksichtigen. Sie sind bereit an Prophezeiungen und Wunder zu glauben.

Für den Merowinger ist das ultimative Weltgesetz die Kausalität, da er die Menschen mit Hilfe von Programmen steuern kann. Für ihn sind die Menschen willenlose Sklaven (besonders gut sichtbar im Club "Hell"), die nur glauben, eine Wahl zu haben. Beim Betreten seines Restaurants ("Le Vrai" ist Französisch für "Wahrheit") erfahren Trinity, Morpheus und Seraph, dass die Elite sozusagen die Wahrheit für sich gepachtet hat, ihre Macht aber nur auf einer Fassade beruht ("Alles hier ist künstlich.").

Er ist Besitzer der wichtigsten Information, nämlich der Antwort auf die Frage, warum die Menschen in der Matrix sind ("Warum sind Sie hier?"). Eine mögliche Antwort auf die Frage wäre: "Weil sie an Herrschaft glauben.". Er beantwortet die Frage aber nicht. Wie ein echter Machtpolitiker handelt er zwar mit Informationen, verschenkt sie aber nicht. Wenn er etwas gibt, möchte er etwas anderes dafür.

Interpretation

In der Trilogie geht es ständig darum, die Zukunft vorherzusagen, einzuschätzen, was passieren wird. Alle machen sich ständig Gedanken darum und versuchen häufig auch, die Zukunft zu berechnen (wir hören z. B. ständig Zahlen, die sagen, wann die Wächter in Zion ankommen, Neo fragt: "Wo soll das hinführen? Wo soll das enden?").

Aber die Zahlen dienen nur dazu, eines von vielen möglichen Zukunftsszenarien zu berechnen. Sie repräsentieren immer nur eine Möglichkeit, können die Zukunft aber nicht exakt voraussagen. Das ist es, was Smith so unruhig macht und was auch den Menschen (z. B. Commander Lock, der sich ausrechnen lässt, wie lange die Maschinen zum Bohren brauchen), Angst macht. Deswegen will Smith auch die Augen des Orakels. Er braucht sie, um endlich zur KI zu werden und immer schon exakt im Voraus zu wissen, was passieren wird.

Die drei Filme stellen dar, wie Neo es schafft, sein (Alter) Ego zu besiegen, indem er, statt gegen es zu kämpfen (vor allem in Matrix 1+2), eben nicht mehr kämpft, sondern es in der Schlussszene von "Matrix Revolutions" annimmt.

In "Matrix" bekämpft er es und versucht, es zu zerstören, obwohl es ein Teil von ihm ist. Er sorgt aber nur dafür, dass die Situation eskaliert und sich das Ego in "Matrix Reloaded" verselbständigt. Die Anzahl der verdrängten Persönlichkeitsanteile (Agenten) nimmt zu.
In "Matrix Revolutions" hört er auf, gegen sein Ego zu kämpfen, das als psychotisch und geisteskrank charakterisiert wird ("He's psychotic!", "He's out of his goddam mind."). Dadurch endet die Gewalt und es entsteht Frieden. Es geht also um Gewalt- und Herrschaftslosigkeit, da die Menschheit nur so eine Zukunft hat.

Insgesamt lese ich die Trilogie als eine Herrschaftskritik und als eine Warnung vor Künstlicher Intelligenz. Meine Interpretation weicht stellenweise auch von Mark Passio ab (er hat eine viel rezitierte Analyse auf Youtube veröffentlicht), auch wenn ich seinen Vortrag großartig finde und ihn schon weiterempfohlen habe.

Die interessanteste Lehre, die wir als Zuschauer aus der Trilogie ziehen können, lautet, dass sich der freie Wille nicht von außen bekämpfen lässt. Das hängt damit zusammen, dass in der Matrix der Geist über die Materie regiert.
EDIT:

Neo u. Smith kämpfen, weil Neo Angst vor dem Tod hat und Smith Angst vor Lebendigkeit hat. Wenn Neo sich von seinem Ego befreien möchte, muss er

  1. eine nachhaltigere Möglichkeit finden, sich lebendig zu fühlen, als das Kämpfen und sich
  2. klarmachen, dass der Tod (symbolisiert durch Smith, der Neo's Tod möchte) ein integraler Bestandteil des Lebens ist (Smith ist ein Teil von Neo) und aufhören, ihm (z. B. durch Technologie, die ihn vor Unwägbarkeiten schützt) davonzulaufen, um Angst, Unsicherheit und Zweifel nicht mehr fühlen zu müssen.

Letztendlich zeigt "Matrix", dass wir uns nur dann lebendig fühlen, wenn wir streiten können. Der Kampf mit dem eigenen Ego führt zu ewigen zwischenmenschlichen Kämpfen. Aber global betrachtet auch zu Kriegen.

Erst wenn wir ehrlich zu uns sind und unserer Angst vor Lebendigkeit und unserer Angst vor dem Tod begegnen, also in Frieden, Übereinstimmung mit uns selbst sind, können wir die Kriege beenden.

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18.09.2021 UTC + 1

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We are all victims of causality. I drank too much wine, I must take a piss. Cause and effect. :D

Interessante Sichtweise. Warum sollte Smith ein Teil von Neo sein, sogar sein Alter Ego?

Danke für dein Feedback und dein Upvote :)
Also Smith ist für mich Neo's Alter Ego, weil das Orakel sagt, dass Smith Neo ist:

Neo: What is he?
Oracle: He is you. Your opposite, your negative.

Und ich bin wegen "Matrix Reloaded" darauf gekommen. Als Smith nach der Selbstreplikation auf so egozentrische, selbstgefällige Weise sagt "Me, me, me... and me."

Ich sehe, ich muss mir Teil 2 und 3 nochmal anschauen, an das konnte ich mich gar nicht mehr erinnern.
Ich hatte den Eindruck, dass insb. Teil 2 und 3 künstlich "intellektuell erhöht" wurden, in dem Sinn, dass (um die Handlung aufzufüllen?) mit Zwang ein philosophischer Überbau installiert wurde, der irgendwie so gar nicht ins ursprüngliche Konzept reinpasst. Das hatte mich daran gestört, aber jetzt, vor dem 4.Teil muss ich mich nochmal reinvertiefen :)

Ja, ich kann die allgemeine Kritik an den letzten beiden Teilen durchaus nachvollziehen. Aber da ich zu den Die-hard-Fans gehöre, beschäftige ich mich immer mal wieder so intensiv damit wie andere mit der Bibel. Prinzipiell hätte es die letzten beiden Teile aber wirklich nicht gebraucht. Ich freue mich natürlich trotzdem. Übrigens hab ich jahrelang immer wieder (ok, ich gebe zu, auch ein bisschen im Scherz) gesagt, dass es einen vierten Teil geben wird. ^^

Viel Spaß bei der Trilogie und dem 4.Teil!

Ich muss nochmal was nachlegen. Das Thema lässt mich einfach nicht los und mir ist über Nacht noch ein bisschen was eingefallen, das ich für sehr wichtig halte.

Neo u. Smith kämpfen, weil Neo Angst vor dem Tod hat und Smith Angst vor Lebendigkeit hat. Wenn Neo sich von seinem Ego befreien möchte, muss er

  1. eine nachhaltigere Möglichkeit finden, sich lebendig zu fühlen, als das Kämpfen und sich
  2. klarmachen, dass der Tod (symbolisiert durch Smith, der Neo's Tod möchte) ein integraler Bestandteil des Lebens ist (Smith ist ein Teil von Neo) und aufhören, ihm (z. B. durch Technologie, die ihn vor Unwägbarkeiten schützt) davonzulaufen, um Angst, Unsicherheit und Zweifel nicht mehr fühlen zu müssen.

Letztendlich zeigt "Matrix", dass wir uns nur dann lebendig fühlen, wenn wir streiten können. Der Kampf mit dem eigenen Ego führt zu ewigen zwischenmenschlichen Kämpfen. Aber global betrachtet auch zu Kriegen.

Erst wenn wir ehrlich zu uns sind und unserer Angst vor Lebendigkeit und unserer Angst vor dem Tod begegnen, also in Frieden, Übereinstimmung mit uns selbst sind, können wir die Kriege beenden.

eigentlich ist nach Teil 1 alles gesagt. Freu mich trotzdem auf Teil 4 :)

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