Notiz an den Dreißigjährigen (ungegendert)

in #deutsch6 years ago

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Ich bin Kind alter Eltern. Mein Vater war Jahrgang 1912, meine Mutter 1913. Wie das kommt? Pflegeeltern. Als Jugendlicher habe ich mich immer gefragt, wie es sein mag, die zwanziger, dreißiger Jahre erlebt zu haben, die Nazi-Zeit, und nun im „Jetzt“ zu leben. Wie lange sind die damaligen Ereignisse „gefühlt“ her, wie bilden sie sich im Gedächtnis ab? Sind sie schemenhafte Schatten, so schwarzweiß wie die Bilder aus jener Zeit, fühlen sie sich weit entfernt an, wie aus einer anderen Welt? Die Frage habe ich meinen Eltern nie gestellt, bedauerlicherweise.

Nun gehe ich auf die Sechzig zu und mag es kaum glauben; im Innersten bleibt man stets achtundzwanzig. Das ist Mist, sage ich euch; es macht keinen Spaß, dabei zuzusehen, wie ein hochfunktionaler evolutionärer Überlebensapparat Zug um Zug seine straffe Dynamik einbüßt, zumal es der eigene ist. „Getting old is not for sissies“ sagte Bette Davis.

Aber es hat Vorteile. Man wird ruhiger, gelassener. Sogar frecher, aus der Gelassenheit heraus, das kann durchaus Spaß machen. Denn man pfeift auf so manche Meinung anderer, der man sich einst noch angeglichen hätte. Ist euch schon mal aufgefallen, wie frank und frei Politiker vom Leder ziehen, wenn sie nicht mehr in Amt und Würden sind, nicht mehr angreifbar?

Aber darum soll es hier nicht gehen. Sondern um die zeitliche Perspektive, die Antwort auf meine Frage als junger Mensch, wie es sich anfühlt, ein halbes Jahrhundert zurückzublicken.

Kristallklar, sage ich euch. Nix mit „Schemen“, nix mit „Schatten“, alles lebt in Farbe und dreidimensional. 1975 waren die Menschen genauso wach und interessiert und intelligent wie wir uns heute fühlen. Wir führten in Jugendherbergszimmern nächtelange philosophische Debatten, die ich rezitieren könnte. Wir wurden älter und lernten dazu, verwarfen das eine, bestätigten das andere, vervollständigten das Bild (das nie vollständig sein wird). Wir wurden gleichzeitig demütig, uns unseres unermesslichen Nichtwissens bewusster, und arrogant, uns des bisschen Wissens sicherer, das wir mühsam erwarben.

Es war damals nicht „alles anders“, es waren keine dumpfen Zeiten. Ja, wir wissen heute viel mehr, zugegeben. Aber wer sind „wir“? Hältst du, Leser, das hinzugewonnene Wissen in Händen? Bist du sicher, weißt du um gemachte Fehler und wohlmeinende, aber gescheiterte Versuche? „Wir“, das sind wir alle, die Alten und die Jungen. Die Jungen mit dem Impetus der Veränderung, mit der Utopie vor Augen. Gut so, wir brauchen euch. Und die Alten mit „das ist schon fünfmal schiefgegangen und ich weiß auch, warum“. Ihr braucht uns.

„Change“, Aufbruch, Neues ist sexy; Fehlerkorrektur ist anstrengend. Jeder Softwareentwickler weiß das. Er weiß auch, dass für ein gutes Produkt beides nötig ist – Antrieb und Mut zur Innovation, aber auch die Fähigkeit zum „Rollback“, wenn man den unvermeidlichen Bock geschossen und sich heillos verstrickt hat.

Das gilt auch für die gute Gesellschaft. Es gibt Leute unter uns, die genau deshalb seit einigen Jahren die aktuelle Politik kritisieren. Sie machen das nicht aus Daffke oder um ihr Schäflein ins Trockene zu bringen, sondern aus tiefer Sorge. Ihr müsst nicht ihrer Meinung sein. Aber leiht ihnen ein Ohr.

Sort:  

im Innersten bleibt man stets achtundzwanzig.

Hahaha, du hast recht, es hört nie auf ...

es macht keinen Spaß, dabei zuzusehen, wie ein hochfunktionaler evolutionärer Überlebensapparat Zug um Zug seine straffe Dynamik einbüßt

Wenn es nicht diese wunderbare Einrichtung gäbe: Was du nicht mehr kannst, willst du auch nicht mehr! - OK, jedenfalls spätestens nachdem du beim Wollen gescheitert bist. 😉

Ich fasse mal zusammen:
Als ich geboren wurde, gab es noch keinen Fernseher. Und das ist gut so.

Hallo electrician,

ich mag deinen Post sehr.

Ich habe zwar erst die 50 erreicht, würde aber alles unterschreiben was du geschrieben hast.

es macht keinen Spaß, dabei zuzusehen, wie ein hochfunktionaler evolutionärer Überlebensapparat Zug um Zug seine straffe Dynamik einbüßt, zumal es der eigene ist. „Getting old is not for sissies“ sagte Bette Davis.

Diese Tatsache ist wahrlich eine große Herausforderung, mit der ich auch immer noch nicht einverstanden bin... 😂 Ich vermute auch, dass man als Frau da noch mal andere Dinge am laufen hat, als der Mann.
Auf jeden Fall ein Graus..

Was mir schwer fällt ist, bei meinen Kindern zuzusehen, wie sie in die gleichen Fallen (oder noch fiesere) laufen wie ich. Wo ich es doch ständig predige 😂😉 Mir ist aber schon klar, dass das wohl so sein muss....

Ich danke dir für deine Sicht, denn ich frage mich oft, wie es wohl 10 Jahre weiter sein wird. Denn ein bisschen gelassener stimmt, könnte aber definitiv noch mehr werden! lach..

Ich werd mal schaun was du in Zukunft noch so schreibst und dir Folgen. Einen resteem bekommst du auch von mir!! Freu mich auf mehr!
Ganz herzlich, Monja

Gute Gedanken in Zeilen gedrückt, denen ich gut folgen kann - doch nur bis zum letzten Abschnitt.
Liegt es vielleicht daran, dass du den Post nicht überfüllen wolltest und daher das Fazit in 4 kurze Sätze gepresst?

Sie machen das nicht aus Daffke oder um ihr Schäflein ins Trockene zu bringen, sondern aus tiefer Sorge

Aus Trotz lasse ich ja noch gelten. Doch wer will mit seiner Kritik lediglich sein Schäflein ins Trockene bringen? Diese Betriebsanleitung muss mir noch nachgereicht werden.

Ihr müsst nicht ihrer Meinung sein. Aber leiht ihnen ein Ohr.

Wenn jemand bei oder in seiner Kritik bewusst und konsequent eine Beschneidung der Menschenrechte einfordert, wüsste ich nicht, weshalb ich ihm länger als für eine abgedroschene Phrase mein Ohr leihen? So viel Seife steht mir gar nicht zur Verfügung, um den notwendigen Reinigungsprozess einzuleiten.
Ich freue mich jedenfalls immer, wenn ich in Posts noch Wörter wie Mischpoke, Daffke, Chuzpe, Maloche oder Buhei finden kann.
Ich trenne mich nicht von meinem Hörorgan, genau sowenig wie von der Kippa, noch lasse ich zu, dass jemand meiner Nachbarin das Tragen des Kopftuchs verbietet.

Gruß, Wolfram

Ich glaube, Du weißt schon, was er meint ...

Interessante Gedanken. Schön, dass du unsere Blickwinkel mit uns teilst. Und zum Alter: Dann werde ich bald wohl zum zweiten mal 28 :D