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RE: Die Zutaten für Haß – The ingredients for hatred DE/EN

in Deutsch D-A-CH3 years ago

Wie gut, dass du eine Kehrwende in deinen Gedanken vollzogen hast, die ich sehr begrüße. Eine wirklich bemerkenswerte geistige Leistung, dich sozusagen selbst dabei beobachten zu können, wie du vom wütenden reaktiven Menschen zu einem reflektierenden wirst.

"Der Westen hungert nach Kultur", würde ich sagen. Der Hunger nach Kultur ist derartig groß und gewaltig, dass man die Vergangenheit durchwühlt und jedes noch so handhabbare Artefakt und Schriftstück auf seinen kulturellen Wert und Einzigartigkeit untersucht. Nicht nur im eigenen Land, auch auf der ganzen Welt. Wir suchen wie die Trüffelschweine etwas, das wir verloren zu haben scheinen.

In der säkularisierten Welt ist nichts mehr heilig, nichts mehr unerklärlich, alles Mystische kann "wissenschaftlich ganz einfach erklärt" werden, Kunst scheint nurmehr Ware zu sein, aber nicht Ausdruck einer gelebten Kultur. Wo wir auf Höhlenmalereien oder in fremd- und altsprachigen Texten die Inhalte zu verstehen suchen, stellen wir doch auch häufig fest, dass es sich um Toten- und Geburtskulte handelt, nicht?

Wie unkultiviert wir sind, können wir daran sehen, dass wir modernen Menschen in keiner Beziehung zu Geburt und Tod mehr stehen. Weil wir als lebendige Zeugen von Sterben und Gebären fehlen. Wir wischen das Blut nicht mehr selbst weg.

Das, was wir an einer Kultur nicht verstehen, abstoßend, ekelhaft, brutal, angsterregend, irritierend und überraschend finden, ist genau das, was wir auslöschen wollen oder ausgelöscht haben.

Du sagtest:

Statt Kulturzerstörung im Ausland, zerstört man seine eigene im Inland.

Ich habe einen Artikel zum Thema Kultur geschrieben, der besser ausdrückt, was ich hier zu sagen versuche. Ich denke, die Zerstörung der inländischen Kultur ist weit vorangeschritten - auf wie viel können wir verzichten? Welche Bedeutung geben wir einander im Angesicht des Todes und der Geburt?Genau wie beim Übergang vom Kind zum Erwachsenen?

Da alles schön und leicht und gefahrlos sein soll, haben wir uns eine Welt gebastelt, in der es eben alles leicht und hübsch und gefahrlos ist. Das Gefahrvolle, Brutale, Ekelhafte, Verstörende, Unverständliche haben wir auf die Filmleinwand verbannt.

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In der Regel bin ich ein eher reflektierender Mensch und habe einen Ruhepuls von 30, aber schon seit ein paar Wochen ist mir aufgefallen, daß meine Urteile, Meinungen und Gedankenketten recht verhärtet geworden sind. Klar war ich nie frei von Vorurteilen und kann es auch nie sein, da das Gehirn einfach prinzipiell nicht so funktioniert – aber Geduld und Ruhe beim Denken sind meine liebsten Errungenschaften. Die aufgeheizte Stimmung hat das untergraben. Und das Video hat etwas ausgelöst, das mir geholfen hat mich dabei zu ertappen :)

alles Mystische kann "wissenschaftlich ganz einfach erklärt" werden …

Der Gedanke begegnet mir auch oft, aber ich halte ihn für einen Schuß Opium (oder eher Zug). Ich glaube es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen einem mystischen Gedanken und einem naturwissenschaftlichen. Beide sind legitim und wichtig, aber voneinander abgegrenzt. Die eine erforscht die Aussenseite der Existenz, die andere die Innenseite. Grob verallgemeinernd gesprochen. Und genau da hat die Grundfärbung der dominierenden Weltanschauung, das „wissenschaftlich ganz einfach erklärt“ eine Aushöhlung verursacht, die den Menschen zu einer komplizierten Maschine degradiert hat, die man nur anständig warten und tunen muß, damit alles wie geschmiert läuft. Und da – wie du sagst – muß man alles Eklige und Unreine abschaffen. Dazu will man das ganze Leben in eine SmartCity verwandeln, in der man in seiner SmartWohnung bequem und unterhaltet leben kann. Und für die aufwallenden Emotionen (Igittigitt) gibt es Filme, Toys und Pillen. Denn das Reptilienhirn kann man noch nicht ausschalten.
Meiner Meinung nach hat genau dieses Gefühlssurrogat der virtuellen Realität einen großen Anteil an der ausgebrochenen Hysterie, die unsere Gesellschaft gerade spaltet. Es ist ein Vakuum entstanden, welches gefüllt werden muß, und da holt man sich das nächstbeste was in der eigenen Timeline auftaucht, um einfach irgendetwas zu fühlen.

“Der Westen hungert nach Kultur“

Absolut! Mir ist erst vor kurzem eine Idee aufgegangen, die auch vergraben wurde unter dem Profanen des sinnentleerten Alltags. Früher war es eine Binsenweisheit wie wichtig es ist seine eigene Geschichte zu kennen, und die Geschichte seines Landes, seiner Kultur, um überhaupt zu wissen wer man ist. Denn man ist ja aus diesen Umständen heraus gewachsen und geformt. Auch die Geistesgeschichte der eigenen Kultur, die über Jahrtausende zurückgreift, spielt eine ganz große Rolle. Dieser Aspekt ist von einer Micky Mouse Kultur verdrängt worden und hat nichts als Zuckersüße Bilder und Inhalte hinterlassen. Das ist auch ein Symptom einer vollkommen materialistisch gewordenen Kultur, die nichts höheres kennt, als die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse. Aber alle körperliche Befriedigung ist immer nur temporär und verlangt nach mehr … bis zur Erschöpfung. Wir sind erschöpft.
Ich habe deinen Artikel noch nicht gelesen, aber gerade das Thema Tod und Geburt, oder wie in alten Kulturen auch verbunden mit Sonnenaufgang und -untergang, sind fundamentale Bestandteile unseres Daseins, die eine große Wirkung haben. Oder die Welt der Gedanken bzgl. Sein und Sinn, gehören zu unseren natürlichsten Bedürfnissen. Nur eben auf geistig-seelischer Ebene. Und das haben wir alles für ein stabiles WLAN und Netflix hingeopfert. Da kann sich die eigene Natur nur noch wehren … und auf die Suche machen.
Jetzt wird es dann auch schwierig. Die Vergangenheit hat viel, sehr viel, zu bieten. Da gibt es Kultur zur Genüge. Aber nach hinten schauen gilt nicht. Doch wäre es nicht gut ein Bewußtsein zu schaffen für die großen kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit um aus diesen heraus eine neue zu gestalten – eine zeitgemäße? Da muß man einfach wieder lernen den Blick nach innen zu wenden und tief zu lauschen. Quasi mit geschlossenen Augen die Welt anschauen.

Auch wenn ich glaube das es passieren wird und aus diesen massiven Konflikten eine neue Kultur entstehen wird, kann das auch schief gehen, und die Menschen bevorzugen es „glückliche Sklaven“ zu sein. Aber vielleicht haben wir auch das Glück und werden das abstoßende, brutale, ekelhafte, angsterregende und irritierende erleben und aus diesem heraus unser Menschsein neu entdecken.
Ich hoffe.

Und jetzt lese ich mir deinen Artikel durch :)

PS: Wenn du an einen Kulturimpuls denkst; was fällt dir dazu ein? Was möchtest du in der Gesellschaft aufblühen sehen?

Doch wäre es nicht gut ein Bewußtsein zu schaffen für die großen kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit um aus diesen heraus eine neue zu gestalten – eine zeitgemäße?

Ich weiß nicht. Kann man aus etwas, das nur noch theoretisch vorhanden ist, ein Bewusstsein für etwas Praktisches entwickeln? Totenwache: Wer macht das heute noch? Den Gestorbenen in den vier Wänden aufzubahren: Wo ist das noch lebendig? Die Aufbahrung in der Kapelle: Wie häufig besuchen Trauernde diese tatsächlich (noch)? Was ist überhaupt "zeitgemäß"?

Was ist der derzeitige Kult? Scientology im ganz großen Stil?

Dann müssten wir die Sechzigjährige feiern, die einen Boob-Job an sich vornehmen lässt. Den 80Jährigen, der Potenzpillen einwirft. Den Mittvierziger, der es schafft, für zehn Minuten in einem absolut verdunkelten Raum eingesperrt zu sein. Die Pubertät auf unbestimmte Dauer verlängert zu haben?

Mutproben finden nicht im dunklen Wald, auf hoher See oder in erregenden Höhen statt. Mut wird geprobt indem man unbekannte Sachen schluckt oder sich spritzen lässt und dann den großen Zufallsgenerator anwirft, der über Leben oder Tod entscheidet? Ich bin nicht sicher... vielleicht unterscheidet man hier eine Magen- oder Gemütsverstimmung von einer allergischen Reaktion, hält es aber für Mord ... ? Keine Ahnung.

Vielleicht ist dieses die Zeit der großen Narrheiten, vielleicht hab ich's nur noch nicht begriffen, dass es einzig darum geht, zu lächeln und zu winken? LOL

PS: Wenn du an einen Kulturimpuls denkst; was fällt dir dazu ein? Was möchtest du in der Gesellschaft aufblühen sehen?

Ich wage kaum noch, darüber nachzudenken :) Vielleicht werden die Wünsche wahr und dann bekommt von ihnen das Gruseln.

Bin heute wohl eher unernst-ernst.