Bullshit: Fluch oder Segen in einer schnelllebigen Zeit?

in #bullshit4 years ago (edited)

Ich bin vor kurzem auf ein sehr interessantes Buch gestoßen. Dieses Buch trägt den Titel „Bullshit“ und wurde von einem US-amerikanischen Philosophie-Professor namens Harry G .Frankfurt geschrieben. In diesem kleinen Buch (etwa 50 Seiten) gibt Herr Frankfurt eine wissenschaftliche Definition des Begriffs „Bullshit“ zum Besten. Dieses Buch hat mich sehr beeindruckt und zum Nachdenken angeregt, weshalb ich die Kernthesen dieser Schrift mit euch teilen wollte.


Pixabay

Wahrscheinlich ist den meisten der Begriff „Bullshit“ in irgendeiner Weise geläufig. Oft werden Falschaussagen oder gar Lügen mit diesem Begriff quittiert. Tatsächlich gibt es aber fundamentale Unterschiede zwischen der Lüge und dem „Bullshit“. Bullshit kann man sich allgemein-verständlich als die Abwesenheit des Interesses an der Wahrheit vorstellen. Dadurch, dass es quasi kein Interesse an der Wahrheit gibt, ist diese auch nicht bekannt und daher ist Bullshit auch keine Lüge. Im Gegensatz dazu ist sich der Lügner über die Wahrheit vollkommen im Klaren und verzerrt diese bewusst.

Als Beispiel führt Herr Frankfurt die alten Handwerkstugenden heran. Früher haben die Handwerker sehr penibel gearbeitet und selbst Teile eines Stückes, die keine besondere Rolle spielten oder nicht sichtbar waren, wurden sorgsam gefertigt. Es gab somit keine Schlamperei und daher keinen Bullshit. Im Vergleich dazu sehen wir die Produkte dieser Tage, die hastig entwickelt, mangelhaft verarbeitet und dann billig auf den Markt geworfen werden. Dies ist per Definition „Bullshit“, denn die Produkte funktionieren selbstverständlich, dennoch sind sie in Wahrheit ungenügend.

Ein anderes Beispiel kann vielleicht in unserem Bildungssystem gefunden werden. Angenommen jemand lernt die ganze Zeit alles auswendig, aber ohne zu verstehen was er da lernt. Im Abitur hat er vielleicht dann überall Bestnoten. Nun würde man demjenigen einen überragenden Intellekt unterstellen und auch derjenige selbst würde es so sehen, denn er hat ja nur gute Noten. Weder die Lehrer noch die Schüler hinterfragen das Ergebnis. Sie sind also nicht interessiert an der Wahrheit. Es zählt einzig und allein, dass der Schüler brav alles erledigt, um dann seinen Weg weiterzugehen.

Bullshit ist somit die „Gleichgültigkeit gegenüber der Frage wie die Dinge wirklich sind“. „Denn das Wesen des Bullshits liegt nicht darin, dass er falsch ist, sondern dass er gefälscht ist“. „Bullshitten“ ist sozusagen durchmogeln. Ich habe dies damals an der Universität oft mitbekommen, wo (fast) alle Studenten zu den Fachschaften gerannt sind, um sich dort Altklausuren oder Altprotokolle zu holen (ich habe dies übrigens immer aus tiefsten Herzen abgelehnt). Man kopierte nur, dass bereits existierende und versuchte somit eine tiefgründige (aber langwierige) Auseinandersetzung mit den Dingen zu vermeiden. Man ist also nicht daran interessiert „was die Welt im Inneresten zusammenhält“ (frei nach Goethe). Da dies jedoch eine verbreitete Methode ist und de facto von den Fakultäten toleriert wird, sieht der „Bullshitter“ dies nicht als Betrug, sondern als legitime Methode an. Dies ist u.a. auch der Grund, warum „Bullshit“ in unserer Gesellschaft eine sehr starke Anerkennung genießt. Würde man bestimmte illegale Betrugspraktiken gesellschaftlich akzeptabel machen, so würden diese möglicherweise vom Betrug zum „Bullshit“ transformiert werden.

„Er [der Bullshitter] steht weder auf der Seite des Wahren noch auf der des Falschen“.

Die Frage, welche sich am Ende stellt, ist wie man mit dem Bullshit umgehen soll. Schaut man sich dieser Tage um, so hat man oft den Eindruck der
„Bullshit“ ist überall zuhause. Mehr noch, der Bullshit scheint zur Grundlage dieser Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung geworden zu sein (oder war es vielleicht schon immer).

Daher die Fragen: Ist es überhaupt noch möglich ohne Bullshit irgendetwas zu erreichen? Thomas Edison soll mal gesagt haben „Fake it till you make it“. Eine gewisse Portion Bullshit kann somit die Grundvoraussetzung für Größeres sein, zumindest in Edisons' Fall. Die Konsequenz daraus ist, dass wenn man stets und ständig alles wissenschaftlich-korrekt bis zu Ende denkt, wir einen Stillstand erleben könnten. Gibt es daher so etwas wie „gesunden Bullshit“? Oder ist unsere Zeit einfach nur hektisch und getrieben, sodass man die eigentlichen Zeiträume für ordentliche Entwicklungen nicht mehr überblickt, weil alles hastig“ und „casual“ abgefrühstückt werden muss?

Wie seht ihr diese Problematik bzw. was ist eure Strategie?

Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion.

Euer Chapper

 

Quellen: Harry G. Frankfurt: Bullshit. Suhrkamp Taschenbuch 4490. 2.Auflage 2019.


Posted from my blog with SteemPress : http://worldofchapper.de/rp295320-ovh/index.php/2020/06/18/bullshit-fluch-oder-segen-in-einer-schnelllebigen-zeit/

Sort:  

Ich definiere Bullshit in meinem eigenen Sprachgebrauch etwas anders, und ich glaube das ist ok, weil es für das Wort keine allgemein gültige Definition gibt.
Aber ich weiß sehr gut, welche Problematik du ansprichst.

Zu deiner Frage

Gibt es daher so etwas wie „gesunden Bullshit“?

In der Wissenschaft ist nie alles perfekt. Jede noch so gut durchgeführte Studie hat noch kleine Lücken. An irgendeinem Punkt muss man einen Punkt machen, und das Ding trotz seiner Unvollkommenheit niederschreiben und veröffentlichen, sonst kommt man nicht weiter und steht still. Und dafür wird man die Lücken mit schönen Worten zudecken müssen, denn sonst bekommt man das Paper nicht publiziert.
Und ich denke das Prinzip kann man auf fast jeden Lebensbereich ausdehnen. Perfektionismus führt zu Stillstand.
Umgekehrt darf man das Bullshitten nicht übertreiben. Erfindet man z.B. Daten, verdreht man die Wahrheit wider besseres Wissen (laut deiner Def. dann eine Lüge, und nicht mehr Bullshit) oder publiziert man mehr Löcher als Substanz, ruiniert man sich sehr schnell - und völlig zu Recht - seinen Ruf und das kann existenzbedrohlich werden. Und man kann sich vielleicht nicht mehr in den Spiegel schauen. Würde ich also niemals machen. Und ich denke auch das kannst du auf andere Lebensbereiche ausdehnen.
Und btw.: Es macht mMn absolut keinen Unterschied, ob man das akademische oder das industrielle Setting betrachtet: Es läuft am Ende des Tages überall gleich.

Das Ganze hat sicher ein bisschen mit unserer Zeit und dem aufgebauten Druck zu tun, war aber wie du siehst schon Leuten wie Edison nicht fremd. Vielleicht sieht das Fazit so aus: zum Erfolg führt hochqualitative (aber nicht perfektionistische) Arbeit, die man dann aber auch gut verkaufen muss, was ein gewisses Maß an Bullshit notwendig macht.

Weißt du, was ich meine?

P.S.: Danke für die interessante Denkanregung.

Hi @sco,

da hast du völlig recht. Das Problem des "Anti-Bullshit" ist der Perfektionismus. Ich hatte das Thema gestern Abend als ich mit einem alten Kommolitionen telefoniert habe. Wir waren früher sehr pedantisch. Wollten immer alles bis ins kleinste Detail erfassen und verstehen. Sicherlich waren wir dadurch sehr souverän. Konnten viele neue Dinge schwuppdiwupp verstehen und anwenden, und punkteten in allen möglichen Prüfungen und Praktika. Nachteil war selbstverständlich ein sehr hoher Aufwand und dadurch ein zeitweiliger Stillstand (eben bis man es verstanden hatte).

Ich denke daher die Quintessenz deiner Reply ist schlichtweg: "Lüge nicht, betrüge nicht, und bullshitte auch nicht, mach' die Sachen so gründlich wie möglich, aber hüte dich vor krankhaften Perfektionismus."

Wenn man dies hinkriegt, wird man wohl die besten Ergebnisse erzielen. Oft besteht allerdings die Herausforderung eine gesunde Grenze zu ziehen.

Auf einen bullshit-freien Tag

Besten Gruß

Chapper

P.S.: Vielen Dank für den großzügigen Upvote.

"Lüge nicht, betrüge nicht, und bullshitte auch nicht, mach' die Sachen so gründlich wie möglich, aber hüte dich vor krankhaften Perfektionismus."

Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.

Vielleicht sieht das Fazit so aus: zum Erfolg führt hochqualitative (aber nicht perfektionistische) Arbeit, die man dann aber auch gut verkaufen muss, was ein gewisses Maß an Bullshit notwendig macht.

So auf die art: Ne reisserische Headline kann (und sollte man) man sich schon erlauben, hauptsache der Inhalt wird gelesen und verstanden.

Hi @remotehorst23,

findest du die Überschrift "reißerisch"?

Hey Chap!

Ne, alles gut. 😄✌

Ah, alles klar. Ich dachte schon, ich hätte es etwas übertrieben ;-)

Ich bin manchmal wirklich leicht zu triggern. Aber nein, alles gut. 😄✌

Hey Chap, du kennst dich ja aus, daher mal ne Frage...

Ich hab gerade nen Post geschrieben der auch das steemstem tag hat. Meinst du der Beitrag ist ok so? Oder könnte ich daran noch was verbessern? Ich befürchte immer wenn ich den stem Tag verwende, dass der Beitrag dann nicht gut genug ist. Daher mach ich das auch so selten. 😅

Hi @remotehorst,
ziemlich cooler Post, ich trag ihn gleich den Kuratorchat ein. Werde ihn schonmal vorsorglich via @de-stem upvoten, muss mich dann aber mit @sco noch über das Rating austauschen. Kleiner Tipp für das nächste Mal:

Ansonsten prima Geschichte und vielen Dank für den Beitrag.

Schönen Abend noch

Chapper

Eine erfrischende und tiefgründige Besprechung des Bullshit-Begriffes. Mir fällt der "Diletantismus" dazu ein, eine vielleicht treffende altmodische deutsche Beschreibung, oder? Diese Art hastige und nicht sonderlich an der liebevollen und sich mit dem Produkt / der Leistung befassende Arbeit, mit der man eigentlich nur fertig werden will. Das Ziel heißt "fertig werden, um zu ...". Dieser Zeitgeist, dass man dauernd glaubt, mit etwas fertig werden zu wollen, um - angeblich - etwas Angenehmeres zu machen, bei dem man dann aber eben auch nicht mit wirklichem Interesse dabei ist (gemeinhin Konsumieren), ... . Man hat ein seltsam unbefriedigendes Grundgefühl von "Leere" dabei.

Schön, wie du es beschreibst, wo du sagst, dass sich alte Klausuren anschauen, einen davon abhält, eigene Gedanken, Thesen und Antworten auszuprobieren. Da fehlt ein eigenes Interesse am Studium. Auch wieder nur studieren, um zu ...

Was das Handwerk angeht, so würde mein Bruder dazu "Pfuschen" sagen, wenn einer nur außen und nicht auch innen für eine gute Verarbeitung sorgt. Er ist Restaurator von alten Autos und Flugzeugmechaniker, macht seine Arbeiten mit sehr viel Liebe zum Detail. Ich selbst kenne das vom Nähen, da sollen die Innen-Nähte ebenso schön werden wie die außen (bin noch allerdings im Stadium eines Lehrlings), denn es macht beim Waschen/Pflegen einen Unterschied.

Gehst du privat einem Handwerk nach? Bzw. einem Hobby, bei dem du einen Prozess von A- Z durchläufst?

Hallo @erh.germany,

vielen Dank für die tiefgründige Antwort. Ich bin gerade erst darauf gestoßen. Tatsächlich produziere ich eine selbstgemachte probiotische Brause und verschenke die an meine Freunde und Bekannten. Diese finden die sehr lecker und vergleichen sie mit einem gesunden Eistee. Ich habe lange rumprobiert bis ich es anderen gezeigt habe. Mir ist aufgefallen, dass einige dieses Produkt mit mangelhafter Qualität zum schnellen Geldverdienen auf den Markt werfen. Ich könnte niemals jemanden etwas anbieten von dem ich nicht selbst 100% überzeugt bin.

Besonders wichtig an deiner Antwort war diese "um zu...". Genau dies ist die Krankheit unserer Tage. Die Leute machen nur noch etwas "um zu...", keiner würde mehr seinen Finger rühren einfach der Sache wegen. Schnell gelangen sie in ein Hamsterrad aus sinnloser Arbeit und fragen sich schlussendlich wo die Perspektivlosigkeit, der Mangel und letztlich der Burnout herkommt. Ich stelle mir gerade vor ich würde mit 100% Einsatz etwas tun von dem ich nicht überzeugt bin, ja es gar ablehne. Da wäre ich wahrscheinlich schneller weg vom Fenster als mir lieb ist.

Der Post sollte einfach ein Anstoß zum Nachdenken sein, über sich und das System in dem man sich bewegt. Anscheinend war es sogar von Erfolg gekrönt.

Viel Erfolg bei deinem Nähprojekt und wenn du es richtig kannst, kannst du ja mal ein paar Stücke hier posten.

Bis bald

Gruß

Chapper

Hallo Chapper,

Danke für deine Antwort. Die selbst gemachte Brause würde ich gerne probieren.:)

Etwas anzubieten, von dem man nicht ganz überzeugt ist, müssen wir wohl ohnehin in irgendeiner Form akzeptieren ... , da ist es gut, wenn man etwas im Leben findet, wo es nicht so ist. Ich stimme zu, dass das für Langeweile oder Überforderung sorgt.

Ich habe schon einige Stücke genäht und bin zufrieden damit, dokumentiere das aber nicht, weil das meinen Spaß an der Arbeit unterbrechen würde. Ab und an mal habe ich was fotografiert, reicht aber nicht für einen Post.

Deine Artikel haben eine positive Grundhaltung, das begrüße ich und kann mir davon eine Scheibe abschneiden.

Ja, bis bald mal. Herzliche Grüße!

Thanks for your contribution to the STEMsocial community. Feel free to join us on discord to get to know the rest of us!

Please consider supporting our funding proposal, approving our witness (@stem.witness) or delegating to the @stemsocial account (for some ROI).

Please consider using the STEMsocial app app and including @stemsocial as a beneficiary to get a stronger support. 
 

Congratulations @chappertron! You received a personal badge!

Happy Hive Birthday! You are on the Hive blockchain for 2 years!

You can view your badges on your board And compare to others on the Ranking

Support the HiveBuzz project. Vote for our proposal!